Callgirl
Dinge auf eine bestimmte Art gehandhabt werden – so wie man es bei ihnen zu Hause in Pawtucker oder St. Louis oder Fort Lauderdale eben schon immer gemacht hat. Sie sind fürchterlich aufgeblasen und felsenfest davon überzeugt, dass sie das Recht haben, zu jedem Thema unter der Sonne eine eigene Meinung zu vertreten.
Das Problem ist natürlich, dass man, um eine Meinung zu einer Sache zu haben, zunächst einmal einige Anhaltspunkte, eine gewisse Wissensgrundlage für die Beurteilung braucht. Man kann Freud erst auseinander pflücken, wenn man ihn wirklich studiert hat. Man kann nicht gegen ein Konzept wettern, mit dem man sich noch nie auseinander gesetzt hat. Aber niemand will die Anstrengung unternehmen, sich wirklich intensiv mit einem Thema zu beschäftigen, und zu viele staatliche Schulen lassen die Schüler damit durchkommen. Anstatt auf Leistung zu bestehen, haben wir es zugelassen, dass Meinungen – beliebige Meinungen – genauso viel zählen wie konkretes Wissen und Verstehen. Und dann wundern wir uns, wenn dabei eines der ungebildetsten Völker der Welt herauskommt.
Ich frage mich bloß, warum uns das anscheinend gleichgültig ist.
»Sie können die Arbeiten noch einmal schreiben«, erklärte ich fest, »oder Sie bekommen null Punkte dafür.«
Sie entschieden sich für die null Punkte. Sie würden es mit der Zeit vielleicht noch lernen, aber nicht in dieser Runde. Als Nächstes, dachte ich, werden sie sich beschweren, weil sich meine Noten negativ auf ihr Selbstwertgefühl auswirken.
Gelegentlich erschien mir meine Nachtarbeit als angenehme Fluchtmöglichkeit.
Peach hatte den Telefondienst an diesem Wochenende einer ihrer Assistentinnen übertragen und gab eine Party in ihrer Wohnung in Bay Village. Der Ausdruck »Party« trifft es eigentlich nicht ganz, denn es war eher eine Art Salon. Obwohl ich müde war, ging ich hin. Natürlich ging ich hin. Ich war immer noch relativ neu im Geschäft, immer noch bezaubert von Peach und ihrem Image, ihren Ideen und ihrer Energie. Um ehrlich zu sein, freute ich mich riesig darüber, dass sie gerade mir besondere Aufmerksamkeit zu schenken schien.
Ich fand es toll, sie zu besuchen. Ich hätte es selbst dann toll gefunden, wenn ich dort nicht Luis getroffen und mit ihm geflirtet hätte. Mir gefiel die Tatsache, dass alle Anwesenden so wahnsinnig cool, kultiviert und schick waren. Ich fürchte, ich selbst bin auch nicht ganz gegen gängige Klischees gefeit. Andererseits müssen Eleganz und Intelligenz sich ja auch nicht gegenseitig ausschließen.
Man muss wissen, dass alle Leute, die Peach kennen lernten, sie über die Maßen bewunderten und verehrten. Das lag nicht nur daran, dass sie in bestimmten Kreisen als Leiterin der Agentur bekannt war, obwohl das nichts schadete. Es war etwas in ihrem Wesen, eine gewisse Verletzlichkeit, etwas vage Kindliches, das die Menschen zu ihr hinzog.
Sie wählte diejenigen, die sich in ihrer Umgebung aufhalten
durften, sorgfältig aus. Ich gehörte zu den ganz wenigen Mitarbeiterinnen, die je eingeladen wurden. Die meisten ihrer Gäste waren klug und belesen und konnten geistreiche Unterhaltungen über beinahe jedes Thema führen. Ich glaube, deshalb erinnerten die Zusammenkünfte mich an einen Salon – wegen der intellektuellen Fähigkeiten, der lebhaften Gespräche, die oft das Einzige waren, was die Gäste gemeinsam hatten.
Reden wir also über Peach.
Was kann ich über sie sagen? Sie strahlte Fürsorglichkeit und Verletzlichkeit gleichermaßen aus, so dass man sich an ihrer Schulter ausweinen und sie gleich anschließend dafür trösten wollte, dass man sie mit seinem Kummer belästigt hatte. Man tat Dinge für Peach, die man nie im Leben für irgendeinen anderen Menschen getan hätte. Ich habe lange gebraucht, um herauszufinden, dass diese Eigenschaften nichts Natürliches waren, sondern dass Peach diese Persona erschaffen hatte, weil sie damit gut durchs Leben kam. Sie hatte entschieden, wer sie sein wollte, und war zu dieser Person geworden, die sie aus ihrem tiefsten Innern entstehen ließ. Sie führte ein verbotenes und erfolgreiches Sexunternehmen, sie konnte über Faulkner diskutieren, sie kannte die richtigen Leute, sie war der Liebling der Klub-Szene. Aber ich wusste (weil sie es mir anvertraut hatte), dass sie am liebsten im Jogginganzug herumlief, dass sie den National Inquirer las, dass sie mitten in der Nacht Gedichte schrieb. Ich erzählte niemandem davon. Ich war nur genauso fasziniert von der Persona
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