Cambion Chronicles - Golden wie das Morgenlicht (German Edition)
jede Menge Böses in ihm steckte und dass jeder, der direkt hineinsah, von ihm verschlungen werden würde. Und doch konnte ich nicht wegsehen, konnte mich nicht bewegen und brachte kaum ein Wort heraus. Ich war nicht die Einzige, auch Mom stand ganz benommen mitten im Zimmer.
»Tobias«, flüsterte ich.
Es war kein irdisches Wesen, doch es hörte mich und verstand seinen Namen. Es war kein Mensch mit einem Mund und einer Zunge, doch es sprach mit der Stimme vieler Menschen. Tausende von ihnen, die meisten weiblich, verschmolzen zu einem einzigen Schrei voller Qualen. Zuerst war er leise wie ein Flüstern, doch er wurde rasch lauter, und der goldene Lichtfleck vibrierte wie ein Kehlkopf mit jeder Veränderung im Klangfluss. Von allem, was in den schrecklichen letzten Minuten passiert war, waren es diese Stimmen, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließen. So viele Leben. So viele Opfer.
»Finde mich«, sagte es immer wieder, und die tiefe Stimme ließ den Boden unter uns erzittern. In einer Explosion von Klängen und zerbrochenem Glas verschwand es in die Nacht und nahm mein halbes Fenster und jede Hoffnung auf gesunden Schlaf mit sich. Ich fand bald heraus, dass das nicht alles war, was es mitgenommen hatte.
Im Zimmer war es wieder still. Mom und ich starrten auf die Glasscherben und den Mann, der reglos auf dem Boden lag. Er hatte eine merkwürdige Haltung eingenommen, mit angezogenen Beinen und völlig verdrehten Gelenken, wie eine lebensgroße Puppe, die man achtlos in die Ecke geworfen hatte. Seine Augen waren geschlossen, und ich sah, dass er nicht mehr atmete. Seine bleichen Wangen und Augen waren eingesunken, seine Haut so trocken und durchsichtig wie die abgestreifte Haut einer Schlange. Der letzte Rest Lebensenergie war dem Körper dieses Mannes entrissen worden, und innerhalb von Sekunden begann er zu verfallen.
»Was … zum Teufel … war das?«, fragte Mom, die sich immer noch nicht rühren konnte.
Ich antwortete nicht sofort. Ich versuchte immer noch, alles auf die Reihe zu kriegen, oder vielmehr, mich davon zu überzeugen, dass das, was ich gesehen und gehört hatte, wirklich passiert war. Es war so vieles gleichzeitig gewesen: eine Warnung, ein Notruf und ein Blick in meine Zukunft, wenn ich Lilith nicht unter Kontrolle bekam. Es war der Verfall von etwas Heiligem, ein Verbrechen gegen Natur und Menschlichkeit, und das alles im Namen der Unsterblichkeit.
Ich merkte nicht, dass ich weinte, bis die Tränen schon halb meine Wangen hinuntergelaufen waren. Ich wischte mir das Gesicht mit dem Handrücken ab und sagte: »Das war Tobias’ Seele, Mom.«
6
Okay, jetzt überlegen wir mal, wie viele Menschen schon in diesem Haus gestorben sind«, begann Mom, einen Becher Kräutertee in den zitternden Händen.
»Zuerst Nadine im Wohnzimmer.« Sie deutete auf die Sitzecke auf der anderen Seite des Flurs. »Dann Calebs Vater in meinem Schlafzimmer und jetzt ein Fremder in deinem Zimmer. Fehlen nur noch das Esszimmer und vielleicht die Küche, und wir können Cluedo spielen. Wer war es und mit welcher Waffe? War es Gloria Roth in der Bibliothek mit dem Heizungsrohr oder Dennis Gatow im Wäscheraum mit der Fusselrolle?«
Ich saß ihr gegenüber am Esszimmertisch und sah zu, wie sie einen Nervenzusammenbruch bekam. Irgendwann musste das ja mal passieren, und ich war überrascht, dass es nicht früher dazu gekommen war. Zu ihrer Verteidigung musste man sagen, dass sie zum ersten Mal live und in Farbe einen Menschen hatte sterben sehen, und dafür hielt sie sich ziemlich gut. Wenn auch nur indirekt, so gehörte sie jetzt doch zur Cambion-Welt, und zur Mitgliedschaft auf Lebenszeit in diesem Club gehörte nun mal ein gelegentlicher Leichenfund hier und da.
Natürlich war es in den letzten vier Stunden hier zugegangen wie im Irrenhaus. Die Polizei hielt die Schaulustigen zurück, während die Sanitäter sich vergeblich bemühten, das Opfer wiederzubeleben, einen Touristen von außerhalb, wie wir erfuhren. Sie schrieben seinen Tod einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall zu. Genau das passierte, wenn unseren Spendern zu viel Lebensenergie genommen wurde. Dass seine Haut jedoch aussah, als sei er schon seit Tagen tot und nicht erst seit Stunden, fiel nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Forensik, sondern war eher etwas für die Twilight Zone .
Ich hatte dem Tod in diesem Jahr schon einige Male ins Gesicht geblickt, und mehrmals war er das Werk eines Cambions gewesen, aber diese Art der
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