Cambion Chronicles - Golden wie das Morgenlicht (German Edition)
Möglichkeiten rasten wie eine Maschinengewehrsalve durch meinen Kopf. Vielleicht hatte ihn die Cambion-Anziehung überwältigt, und er war mir nach Hause gefolgt. Aber das würde nicht erklären, warum er goldene Augen hatte oder warum er mich »Blümchen« nannte. Das war Tobias’ Kosename für mich, und niemand sonst kannte ihn. Vielleicht spielte Tobias wieder mal Chamäleon und hatte sich als dieser arme Kerl ausgegeben, aber das würde nicht erklären, wie er den Schutzschild um mein Haus durchbrochen hatte. Meine Gedanken liefen im Kreis und kehrten wieder zur Ausgangsfrage zurück: Wie war er unbemerkt hereingekommen?
Ich trat vor und stieß mit dem Fuß an seinen Fuß, der schlaff wieder zurückfiel. Der Typ war komplett weggetreten und würde so bald auch nicht wieder aufstehen.
»Geh weg von ihm! Wir wissen nicht, was er vorhat.« Mom zog mich hinter sich.
»Irgendwas stimmt da nicht«, sagte ich. Wie um meine Bemerkung zu unterstreichen, bewegte sich der Mann.
Mom und ich kreischten gleichzeitig los und drückten uns an die Wand. Im selben Augenblick klingelte mein Handy, was uns zu noch lauterem Kreischen veranlasste. Ich bewegte mich zentimeterweise auf den Schreibtisch zu und schnappte mir das Handy. Ich wusste, wer dran war. Zweifellos konnte er meine Bedrängnis fühlen und wollte hören, was los war. All meine Probleme mit Caleb erschienen plötzlich unbedeutend, und in diesem Augenblick seine Stimme zu hören, war für mich die reine Erlösung.
»Sam, wo bist du? Was ist los? Warum hast du Angst?« Caleb feuerte Fragen ab wie ein Maschinengewehr, und bei jeder wurde seine Stimme etwas höher.
»Er ist hier. I-I ch weiß nicht wie, aber … « Ich sah zu dem Mann auf dem Boden hinunter, der noch immer zitterte. Seine Brust bewegte sich stoßweise auf und ab, und sein Bauch zog sich zusammen, als würde er sich gleich übergeben. Dieser Mann brauchte offensichtlich Hilfe, aber ich konnte ihn nur entsetzt anstarren.
»Sam! Rede mit mir! Was ist los? Wer ist bei dir? Sam, kannst du mich hören?«
Der Rumpf des Mannes hob sich in die Luft, bis nur noch seine Schultern und Füße auf dem Boden ruhten. Sein Kopf drehte sich zur Seite, und sein Mund öffnete sich leicht wie zum Gähnen. Er sog aber keine Luft ein, sondern es kam etwas heraus. Zuerst wenig, wie ein Speichelfaden, der aber schnell zu einer tintenschwarzen Fontäne wurde. Ich musste einige Male zwinkern, bis ich verstand, dass das kein Blut war und auch keine Flüssigkeit, sondern Rauch.
Ich umklammerte das Telefon in meiner Hand so fest, dass es fast zerbrach, während Caleb ankündigte: »Ich komme rüber! Bleib, wo du bist!«
»Samara, lauf! Hol die Polizei!« Mom kroch auf die Tür zu, ohne den Mann aus den Augen zu lassen.
»Sam, ich bin so schnell da, wie ich kann. Nicht bewegen«, sagte Caleb.
»Los, raus hier!«, schrie Mom, während Caleb gleichzeitig befahl: »Bleib dort!«
»Könnt ihr euch jetzt mal entscheiden!«, schrie ich beide an.
Inzwischen sammelte sich die dunkle Substanz in einer Lache um den Kopf des Mannes. Sie strömte immer weiter aus seinem Mund, ergoss sich über sein Gesicht und sickerte in den Teppich. Nach gefühlten vierundzwanzig Stunden verließ der letzte Hauch des unheimlichen Nebels den Mund des Mannes und bewegte sich dann von ihm fort. Wie eine lebendige Wolke tanzte er erst über verschiedene Gegenstände um den Mann herum und kroch dann die Wand zum Fensterbrett hoch.
»Sam!! Sag mir, was da los ist!«, schrie Caleb wieder durch das Telefon.
Die Luft in meinem Zimmer geriet in Bewegung, und Papier und andere Kleinteile flatterten um uns herum. Es schnürte mir den Hals zu, als ich sah, wie dieses Ding an meinem Fenster hochglitt. Einen langen Augenblick hockte es auf dem Fensterbrett, verschmolz mit der Aussicht und verschluckte alles Licht und alle Materie in seinem Umkreis. Das Ding selbst war die vollkommene Abwesenheit von Licht, ein Portal, das sich zu unserer Dimension hin geöffnet hatte. In seinem Inneren wirbelte und drehte es sich auf dieselbe Weise, wie ein schwarzes Loch, das eine Galaxie ihrer Sterne beraubt. Tief im Auge dieses Sturms durchbrach ein winziger ockerfarbener Lichtpunkt die Dunkelheit. Er pochte wie ein Herz in einem unregelmäßigen Rhythmus.
Das Ding, wundersam und Furcht einflößend wie in einem Traum, schien zu atmen und in einer Daseinsebene Platz einzunehmen, in der es nichts verloren hatte. So schön es aussah, ich hatte keinen Zweifel daran, dass
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