Cambion Chronicles - Smaragdgrün wie die Dämmerung (German Edition)
seine, und die Hochspannung knisterte an meiner Zunge. Sein Leben zog in ungeordneten Bildern an meinem inneren Auge vorüber: sein zwölfter Geburtstag in Rom, sein erster Tag in Indien, seine Schule in Deutschland. Ich erlebte mit ihm das letzte Gespräch mit seiner Mutter, bevor sie starb. Ich durchlebte noch einmal den Moment, als er mich zum ersten Mal im Café sah. Hunderte anderer Augenblicke tanzten in meinem Kopf herum wie Glühwürmchen. Ich versuchte, so viele von ihnen einzufangen, wie ich konnte, und sie zu den tausend anderen zu legen, die ich schon in meiner Sammlung hatte.
Während wir von der Energie des anderen tranken, übertrugen die Wesen in unserem Innern ihre Freude auf uns. Capone und Lilith verknäuelten sich ineinander und tollten fröhlich über ihre spirituelle Spielwiese. Sie winselten und bettelten um eine intensivere Vereinigung. Ich spürte es wie ein Klopfen, das tief aus meinem Unterleib kam und mich dazu brachte, mich noch fester an Caleb zu pressen.
Plötzlich bemerkten wir Alicia, die mit offenem Mund in der Tür stand. Ich vergrub meinen Kopf an Calebs Brust. Meine Wangen brannten.
Alicia räusperte sich, ging zu ihrem Schließfach und warf ihren Rucksack hinein.
»Tja, ich wollte mir was in der Mikrowelle heiß machen, aber irgendwie ist mir gerade der Appetit vergangen.« Sie unterdrückte ein Grinsen und verließ den Raum.
Und wir standen immer noch da wie die Ölgötzen und rührten uns nicht.
6
D as Cambion-Motto lautete zwar: »Feiere das Leben«, doch auch der Tod verdiente einen eigenen Feiertag.
Einmal im Jahr kreuzt dieser düstere Fremde unseren Weg und schenkt uns Süßigkeiten. Auch wenn wir Angst vor dem Unbekannten haben und unsere Eltern uns noch so oft warnen – welches Kind kann da schon widerstehen?
Ich verfiel in Träumereien, wenn Wolkenfetzen über den Himmel zogen und die Luft einen violetten Ton annahm. Die Sonne verschwand hinter den Bäumen und gab ihren Posten auf, während der Mond seine Nachtschicht antrat. In genau so einem Zwischenbereich lebte ich auch. Ich war weder Schatten noch Licht, sondern stand genau zwischen zwei Rivalen.
Seufzend wandte ich mich vom Fenster ab und zog mich an. Ich hatte zu viel Zeit damit vergeudet, Löcher in die Luft zu starren und Nadines innere Poetin rauszulassen. Ob es nun eine Bewältigungsstrategie war oder einfach eine Krücke, solche kleinen Einsichten krochen in mein Unterbewusstsein und dämpften den Schmerz. Sie waren wie Blutverdünner für meine verstopften Adern, eine Therapie gegen mein lebenslanges Chaos. Ich durfte nicht allzu lange in diesem Betäubungszustand verharren, sonst würde es mir noch zur Gewohnheit werden. Die Nacht war jung und lebendig, und ich war es Nadine schuldig, sie im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte zu genießen.
Halloween mit der Gang war nichts für Anfänger. Unsere Süßigkeitentouren hatten die Ausmaße militärischer Feldzüge. Früher waren Mia, Dougie und ich absolute Profis in dieser Disziplin gewesen. Häuserblock für Häuserblock hatten wir die gesamte Süßwarenindustrie dem Erdboden gleichgemacht und dabei eine Schneise der Verwüstung sowie Berge von Einwickelpapier hinter uns gelassen. Irgendwann waren wir für Plastikmasken und Sammelkörbchen in Kürbisform zu alt gewesen, aber wir blieben drei Kinder, die im Dunklen kichernd ihren Spaß hatten. Und deshalb griff ich zur Erpressung, um das infernale Trio ein letztes Mal zusammenzutrommeln.
Caleb war es gelungen, eine Einladung zu Courtneys Party für Mia herauszuschinden, und diese Mohrrübe hielt ich ihr vor die Nase, bis sie mit Dougie einen Waffenstillstand vereinbarte. Halloween wäre ohne ihn einfach nicht dasselbe gewesen, also blieb Mia nur die Wahl, entweder die Sache ein für alle Mal zu klären oder einfach die Klappe zu halten.
Ich brauchte über eine Stunde, bis ich fertig war, aber als ich mich im Spiegel betrachtete, wusste ich, dass der Aufwand sich gelohnt hatte. Ich war von Kopf bis Fuß in meine Lieblingsfarbe gehüllt und mit drei Kilo Glitzer bedeckt. Das Kostüm zeigte ausreichend Bein, um Caleb schwindelig zu machen. Meine Beine waren mein Trumpf, Calebs Schwachpunkt und eine narrensichere Waffe gegen Courtney B.s eventuelle Anmachversuche während der Party.
Kurz nach sieben holte Mia mich ab. Sie trug eine Kurzhaarperücke und einen Anzug aus Elastan mit Neonstreifen, der aussah wie aufgemalt. Sie hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um so echt wie möglich auszusehen.
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