Camel Club 01 - Die Wächter
vorbei und betrachtete nochmals jede Landmarke, obgleich er sich alles längst eingeprägt hatte. Weiß gestrichene Pferchzäune umgaben den Platz; es gab mehrere Eingänge für Fußgänger, aber nur eine Fahrzeugzufahrt. Zwei Meter hohe Ziegelsäulen säumten das Tor – ein Engpass, den der Autokorso passieren musste. Für das »Ungetüm« konnte es knapp werden.
Captain Jack sah sich auch ringsum die Baumgrenze an und versuchte zu ergründen, wo in diesem Umkreis die amerikanischen Scharfschützen postiert sein konnten. Wie viele würden es sein? Ein Dutzend? Zwei Dutzend? Selbst bei bester Auskundschaftung konnte man heutzutage nie sicher sein. Dank der Tarnkleidung, die diese Männer trugen, verschmolzen sie so vollkommen mit ihrer Umgebung, dass man leicht über sie stolperte, bevor man sie bemerkte. Ja, höchstwahrscheinlich mussten seine Leute auf diesem geweihten Boden sterben. Aber sie durften wenigstens einen schnellen, schmerzlosen Tod erwarten. Überschallschnelle Weitschussmunition tötete blitzartiger, als das Gehirn reagieren konnte, zumal wenn sie den Kopf traf. Die Fedajin dagegen erwartete wahrscheinlich kein so schmerzfreier Abgang.
Captain Jack stellte sich vor, wie der Autokorso kam und der Präsident aus dem Ungetüm stieg, wie er winkte, Hände schüttelte, Schultern klopfte, ein paar Auserwählte umarmte und wie man ihn anschließend zum kugelsicheren, sogar gegen Bomben geschützten Podium eskortierte, während man Hail to the Chief spielte.
Die Gewohnheit, dieses Lied jedes Mal bei Erscheinen des US-Präsidenten zu spielen, ging zurück auf die Ehefrau von Präsident James Polk, die sich fürchterlich geärgert hatte, dass man ihren kleinen, hausbackenen Gatten häufig übersah, sobald er irgendwo ein- oder auftrat. Deshalb hatte Sarah Polk angeordnet, bei Erscheinen ihres Gemahls stets dieses Lied zu spielen. Seitdem hatten alle Präsidenten sich an die Maßgabe der herrischen Mrs. Polk gehalten.
Die Angelegenheit stellte sich sogar noch amüsanter dar – jedenfalls aus Captain Jacks Sicht –, wenn man die Herkunft des Liedes berücksichtigte. Komponiert worden war es nämlich zum Text von Sir Walter Scotts epischer Ballade Die Dame vom See , die den auf Verrat begründeten Untergang eines schottischen Häuptlings schilderte, den sein Erbfeind, King James V., zum Tode verurteilte. So kam es, dass das Lied, das heute dem Zweck diente, auf die Ankunft des Präsidenten der Vereinigten Staaten hinzuweisen, nichts weniger als die Tötung einer Art Staatsoberhaupt schilderte. Im letzten Teil des Canto 5 wird die eine Frage gestellt, über die nach Captain Jacks Meinung alle Möchtegern-Politiker ernsthaft nachdenken sollten: Ach, wer wollte euer König sein?
»Ich nicht«, murmelte Captain Jack in den falschen Bart. »Ich nicht.«
Der Ex-Nationalgardist setzte sich auf den Stuhl und betrachtete seine neue Hand, während die beiden Männer ihn aufmerksam musterten.
»Nachdem wir jetzt die Tasche eingefügt haben«, sagte der Techniker, »müssen wir die Bewegungen üben.« Der Amerikaner bewegte Handgelenk und Hand so, wie man ihm gezeigt hatte, doch nichts geschah. »Man braucht Übung. Bald werden Sie es sehr gut können.«
Zwei Stunden später hatten sie beachtliche Fortschritte erzielt. Die drei Männer legten eine Pause ein, setzten sich zusammen und unterhielten sich.
»Sie waren also LKW-Fahrer?«, fragte der Chemiker.
Der Ex-Soldat nickte und hob Kunsthand und Haken. »Damit kann man so einen Beruf aber nicht richtig ausüben, weil ich auch beim Abladen helfen musste.«
»Wie lange waren Sie im Irak, bevor das passiert ist?«
»Achtzehn Monate. Ich musste nur noch vier Monate überstehen. Dachte ich. Dann kam der Befehl, dass wir zweiundzwanzig Monate länger bleiben sollten. Vier Jahre insgesamt. Ehe das alles geschah, hatte ich in Detroit Frau und Familie und führte ein geregeltes Leben. Und auf einmal musste ich Geld zusammenkratzen, um mir auf eigene Kosten ’ne Schutzweste und GPS zuzulegen, weil Vater Staat kein Geld dafür hatte. Und dann reißt mir bei Mosul eine Landmine beide Hände ab und dazu ein Stück Fleisch aus der Brust. Vier Monate hab ich im Walter Reed Hospital gelegen. Als ich endlich nach Hause kam, hatte meine Frau die Scheidung eingereicht, meinen Arbeitsplatz hatte längst ein anderer, und ich war im Grunde genommen ein Obdachloser.« Der Amerikaner verstummte und schüttelte den Kopf. »Dabei hatte ich vorher schon, im Ersten Golfkrieg, meine
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