Camel Club 01 - Die Wächter
suchen, Oliver?« Adelphia lächelte. »So es steht auf Ihrem Schild, dass Sie Wahrheit wollen. Ich es sehe selbst. Sie ein Mann, der Wahrheit sucht.«
»Leider werden meine Aussichten, die Wahrheit zu entdecken, mit den Jahren immer geringer.«
Plötzlich fiel Adelphias Blick auf eine durch den Park taumelnde Person. Wahrscheinlich hatte in den letzten zehn Jahren jeder, der Washingtons Straßen frequentierte, dieses klägliche Bild vor Augen gehabt. Wo die Arme sein sollten, hatte der Mann lediglich Stümpfe aus Knochen und Haut. Seine Beine waren so grässlich verdreht, dass man hätte glauben können, er wäre nur durch ein Wunder zum aufrechten Gang fähig. Gewöhnlich lief er, selbst im Winter, halb nackt umher. Er trug keine Schuhe. Die Füße waren schwielig und wund, die Zehen absonderlich krumm. Seine Augen spiegelten kaum mehr als geistige Leere, und unablässig sickerte ihm Speichel vom Kinn auf die Brust. An einer Kordel hing ihm ein kleiner Beutel um den Hals. Auf sein zerfleddertes Hemd stand in kindlichem Gekrakel ein einziges Wort geschrieben: Hilfe.
Stone hatte dem Mann schon oft Geld zugesteckt und wusste, dass er auf einem Abluftrost unweit vom Finanzministerium nächtigte. Im Laufe der Jahre hatte er ihm mehrmals nachhaltiger zu helfen versucht, doch war der Verstand des Bedauernswerten längst zu stark geschädigt. Ob irgendeine soziale Einrichtung ihn betreute, wusste Stone nicht.
»Meine Güte, was für armes Mensch, der Mann da«, sagte Adelphia. »Das Herz mir bricht, wenn ich sehe so viel Leid.« Sie lief zu ihm, kramte ein paar Dollar aus der Tasche und gab sie in den Beutel. Der Mann brabbelte ihr etwas zu und wankte dann hinüber zu einer Gruppe anderer Parkbesucher, die bei seinem Nahen ohne zu zögern ihre Portemonnaies und Brieftaschen öffneten.
Auf dem Rückweg zu Stone trat ein großer Kerl Adelphia in den Weg.
»Ich seh zwar nich’ so beschissen aus wie der da«, sagte er barsch, »aber ich hab Kohldampf und brauch dringend was zu schlappen.« Tatsächlich war seine Kleidung nicht so zerlumpt, doch das Haar hing ihm verfilzt ins Gesicht, und er verströmte einen überwältigenden Gestank.
»Mehr Geld ich nix hab«, antwortete Adelphia furchtsam.
»Du lügst!« Der Fremde packte sie am Arm und riss sie zu sich heran. »Rück ’n paar Flocken raus, sofort!«
Bevor Adelphia einen Laut von sich geben konnte, stand Stone an ihrer Seite.
»Lassen Sie die Frau los!«
»Zieh Leine, Alter.« Der Mann war bestimmt fünfundzwanzig Jahre jünger als Stone und erheblich größer. »Das geht dich ’nen Scheiß an.«
»Die Frau ist eine Freundin.«
»Verzieh dich, sag ich!« Dem Zuruf folgte ein kurzer Haken, der Stone geradewegs am Kinn traf. Stone wurde nach hinten geschleudert und presste die Hände aufs Gesicht.
»Oliver!«, schrie Adelphia.
Nun schimpften andere Parkbesucher auf den Rüpel ein, und jemand rannte los, um die Polizei zu alarmieren.
Während Stone sich mühsam aufrappelte, zückte der Schläger unversehens ein Springmesser und hielt es Adelphia unter die Nase. »Her mit der Knete, Schlampe, oder ich schnitz ’n bisschen an dir rum!«
Stone vollführte einen Sprung. Der Mann ließ von Adelphia ab und taumelte rückwärts, ließ das Messer fallen. Dann sank er auf die Knie. Sämtliche Muskeln seines Körpers bebten, und schließlich sank er mit dem Rücken ins Gras und wand sich vor Schmerzen.
Stone schnappte sich das Messer und hielt den Griff auf eine sehr ungewöhnliche Weise. Mit der anderen Faust packte er zu und riss dem Flegel den Kragen auf, entblößte den dicken Hals mit den pochenden Adern. Einen Moment lang hatte es den Anschein, als wollte Stone ihm die Gurgel von einer zur anderen Seite aufschlitzen. Die Messerspitze verharrte dicht vor einer pulsierenden Vene. Stones Augen hatten einen Ausdruck, den buchstäblich niemand, der ihn in den vergangenen dreißig Jahren gekannt hatte, bei ihm hatte beobachten können. Doch unvermittelt hielt er inne und hob den Blick zu Adelphia, die dastand und ihn fassungslos anstarrte. Ihre Brust wogte. In diesen Sekunden war nicht ganz klar, welchen der beiden Männer sie mehr fürchtete.
»Oliver?«, sprach sie ihn mit gedämpfter Stimme an. Stone warf das Messer auf die Erde, stand auf und klopfte sich die Hose ab. »Mein Gott, Sie tun ja bluten«, rief Adelphia.
»Mir geht’s gut«, beteuerte Stone mit zittriger Stimme, wobei er sich mit dem Ärmel über den blutigen Mund wischte. Doch er log. Der Haken
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