Camel Club 02 - Die Sammler
fast sechzig Jahre und hatte die baumlange Statur eines Football-Stürmers. Er hatte krause schwarze, leicht angegraute Haare, die knapp bis zu den Schultern reichten, düstere Augen und einen ungepflegten Bart, sodass er manchmal ziemlich durchgeknallt wirkte; gelegentlich kam er dem Irrsinn auch durchaus nahe. Reuben war ein ordensgeschmückter Vietnam-Veteran und ehemaliger Mitarbeiter der DIA, des militärischen Geheimdienstes. Seit durch Fusel, Pillen und seine Empörung über den Krieg, der Reuben allzu lautstark Ausdruck verliehen hatte, seine militärische Laufbahn gekappt worden war, schuftete er als Schauermann im Hafen. Mit Hilfe Oliver Stones, der ihn auf dem Nationalfriedhof Arlington gefunden hatte, als er volltrunken unter einem Ahorn lag, war Reuben trocken und clean geworden.
Milton Farb maß ungefähr eins achtzig, hatte längeres Haar und ein engelhaftes, faltenloses Gesicht, durch das er jünger aussah, als man es von einem Neunundvierzigjährigen erwartete. Milton war ein mit grenzenlosen intellektuellen Fähigkeiten begnadetes Kind gewesen. Seine Eltern waren mit einer Kirmesbude durch die Lande gezogen, in der sie die geistige Brillanz ihres Sohnes in sensationslüsterner Atmosphäre reißerisch ausgeschlachtet hatten. Trotzdem hatte Milton das College besucht und sogar eine Anstellung bei der Nationalen Gesundheitsbehörde bekommen. Doch wegen einer zunehmenden Zwangsstörung und einem paranoiden Symptomenkomplex holte seine traumatische Kindheit ihn schließlich ein. Er geriet in Arbeitslosigkeit und Elend und sank in einen derartig desolaten Geisteszustand ab, dass ein Gericht ihn zwangsweise in eine Irrenanstalt einweisen ließ.
Auch in Miltons Fall war Oliver Stone der Retter gewesen. Er hatte als Pfleger in derselben Psychiatrie gearbeitet, in der Milton sich als Patient befand. Da Stone die außergewöhnlichen Gaben dieses Mannes erkannte, zu denen auch ein fotografisches Gedächtnis gehörte, setzte er alles daran, Milton in die Quizshow Risiko! einzuschleusen, wo er dank wirksamer medikamentöser Behandlung sämtliche Konkurrenten an die Wand spielte und ein kleines Vermögen einheimste. Inzwischen erlaubten es ihm jahrelange psychiatrische Beratung und eine konsequente Medikamententherapie, ein weitgehend normales Leben zu führen. Heute war er Inhaber einer lukrativen Firma, die Websites für Großunternehmen entwarf.
Stone lehnte seinen hünenhaften Körper an die Wand und verschränkte die Arme, während er den im Bett liegenden Freund betrachtete.
Caleb Shaw hatte zwei Doktortitel, einen in Literatur und einen in Politikwissenschaften. Er war Spezialist für die Literatur des achtzehnten Jahrhunderts und seit über einem Jahrzehnt in der Raritätenabteilung der Kongressbibliothek tätig. Weil er unverheiratet war und kinderlos, war neben seinen Freunden vom Camel Club die Bibliothek die große Leidenschaft seines Lebens.
Auch Caleb blickte auf schwere Zeiten zurück. Einen älteren Bruder hatte er in Vietnam verloren, und vor ungefähr fünfzehn Jahren waren seine Eltern bei einem tragischen Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Stone hatte Caleb kennen gelernt, als er den Tiefpunkt der Verzweiflung erreicht und anscheinend keinen Antrieb zum Weiterleben mehr verspürt hatte. Stone schloss Freundschaft mit ihm und stellte ihm einen Buchhändler vor, der dringend einen Gehilfen brauchte; und allmählich überwand Caleb dank seiner Liebe zu Büchern die Depressionen.
Man könnte meinen, dass ich verkrachte Existenzen anziehe wie das Licht die Motten, sinnierte Stone. Vielleicht liegt es daran, dass ich selbst eine verkrachte Existenz gewesen bin.
Tatsächlich verdankte Stone seinen Freunden so viel, wie sie ihm verdankten, wenn nicht mehr. Ihm war klar, dass er ohne Caleb, Reuben und Milton nicht überlebt hätte. Nachdem er jahrelang zerstört und vernichtet hatte, hatte er die vergangenen dreißig Jahre seines Lebens versucht, eine Art von persönlicher Abbitte zu leisten. Nach seiner Rechnung hatte er damit noch lange zu tun.
Die Ankunft Alex Fords, eines Secret-Service-Veteranen, unterbrach Stones tiefschürfende Gedanken. Der Agent hatte dem Camel Club erhebliche Hilfe geleistet und war deswegen – und für seinen heldenmütigen Einsatz – zum Ehrenmitglied ernannt worden.
Ford blieb eine halbe Stunde lang. Es beruhigte ihn, dass Caleb keine ernsten Schäden davongetragen hatte.
»Gib auf dich Acht, Caleb«, sagte Alex. »Ruf mich an, wenn du irgendwas
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