Camel Club 04 - Die Jäger
»Was ist?«
»Vor nicht mal einer Stunde habe ich noch mit ihr gesprochen.«
»Wo?«
»Am Wohnmobil ihres Sohnes … genauer gesagt, in den Trümmern.«
»Was haben Sie da gemacht?«
»Ich bin mit dem Auto vorbeigefahren und hörte jemanden schluchzen. Es war Shirley. Ich habe versucht, sie zu trösten.«
»Hatte sie getrunken?«
Annabelle zögerte, antwortete dann aber wahrheitsgemäß: »Ja.«
»Diese Närrin ist von der Straße abgekommen.«
Annabelle sah sich um, betrachtete die Reifenspuren und bemerkte plötzlich im Schein der Fahrzeuglichter ein graues Stück Blech auf der Straße. Sie bückte sich, um es aufzuheben.
»Finger weg!«, befahl Tyree barsch.
Annabelle richtete sich auf. »Aber Shirleys Auto war rot …«
Tyree fasste sie am Arm und zog sie quer über die Straße fort, obwohl mehrere Leute erstaunt zusahen.
»Was soll das, Sheriff?«, stieß sie hervor. »Das war kein Unfall. Jemand hat ihren Wagen gerammt!«
»Ich weiß. Ich möchte nur nicht, dass es sich herumspricht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich es nicht will, darum. Also, was hat Shirley Ihnen so Brisantes erzählt, dass es sie das Leben gekostet hat?«
Nervös leckte sich Annabelle über die Lippen. Shirley hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie in ihrem Heimatort niemandem traute. Wie also sollte Annabelle jemandem Vertrauen schenken können?
»Ma’am«, sagte Tyree, »ich habe die Absicht, all diesen Ungeheuerlichkeiten auf den Grund zu gehen. Schließlich bin ich der Sheriff dieses Ortes.«
Annabelle besaß eine gute Menschenkenntnis. Sie lauschte in sich hinein, und ein Gefühl sagte ihr, dass sie bei Tyree keine Bedenken haben musste. »Kommen Sie mit.« Sie führte Tyree zum Lieferwagen und öffnete die Hecktüren, sodass er ihre Freunde im Laderaum sitzen sah. Nacheinander stellte Annabelle sie ihm vor. »Haben Sie Zeit, sich anzuhören, was wir wissen?«, fragte sie den Sheriff zum Schluss. »Es kann aber ein bisschen dauern.«
»Dann setzen wir uns lieber in meinem Büro zusammen. Hier gibt es mir zu viele hellhörige Ohren.«
Eine Stunde später rieb sich der Gesetzeshüter das Gesicht, während sie alle in seinem Büro saßen, stand auf und blickte trübselig zum Fenster hinaus. »Er ist also nicht Ihr Vater, sondern war für die Regierung tätig und lebt seit Jahren im Untergrund. Und Sie und Ihre Begleiter sind FBI-Agenten und haben die Aufgabe, ihn aus diesem Schlamassel zu retten?«
»Genauso ist es«, antwortete Annabelle. Natürlich hatte sie verschwiegen, dass Knox wegen der Ermordung Simpsons und Grays an Stones Fersen klebte. Immerhin hatte sie dem Sheriff so viel Wahres anvertraut, wie sie sich erlauben konnten, eine für Annabelle gänzlich neuartige Vorgehensweise.
»Zuerst haben Sie mich belogen, und jetzt soll ich Ihnen glauben? Wie wär’s, wenn ich das FBI in Washington anrufe? Kennt man Sie dort?«
Alex erhob sich vom Stuhl und legte dem Sheriff seinen Dienstausweis vor. »Ich bin nicht vom FBI. Wir sind eine gemischte Einsatzgruppe. Ich schlage vor, Sie rufen mein Hauptquartier an und lassen sich meine Identität bestätigen. Wir warten hier solange. Aber tun Sie’s sofort, wenn Sie es für unumgänglich halten. Wir müssen Stone schnell finden.«
Tyree besah sich Alex’ Dienstausweis und schüttelte den Kopf. »Ich glaube Ihnen.« Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück und setzte sich auf die Tischkante. Annabelle bedachte Alex mit einem dankbaren Blick. »Und Sie sind der Meinung, dass Abby Rikers Wohnsitz mit alldem zu tun hat?«
»Der Tipp hat sich eindeutig darauf bezogen«, sagte Caleb.
»Aber Sie wollen doch wohl nicht behaupten, Abby Riker sei in kriminelle Machenschaften verwickelt. Das wäre völlig verrückt.«
»Ich erhebe gegen niemanden irgendwelche Anschuldigungen«, versicherte Annabelle. »Aber ihr Sohn ist verschwunden.«
»Ein in Divine operierender Drogenring«, sagte Tyree. »Und wenn Shirley gesagt hat, von den Kartons, die ins Gericht geliefert werden sollen, fehlen welche, muss der Richter mit den Verbrechern unter einer Decke stecken. Ziemlich ausgeklügelte Sauerei, denn wer kontrolliert schon fürs Gericht bestimmte Formulare? Und als Verteiler missbraucht man Bergleute, die sich ihr Methadon holen kommen? Verdammt, wer hat denn so was Mieses ausgebrütet?«
Jemand klopfte an die Tür, und ein Mann kam herein. Charlie Trimble trug eine Khakihose und ein gestreiftes Hemd mit Knopfkragen. »Ich weiß, es ist spät, Sheriff, aber ich habe
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