Camp Concentration
Phantasie überreizt war, neigte zu Tagträumen und Halluzinationen, und dies bewirkte, daß sein Gehirn erkrankte. Es befindet sich nämlich, wie ich erfahren habe, nahe beim Gehirn ein kleines, empfindliches Organ, das den schöpferischen und imaginativen Kräften zugeordnet ist. Wird unsere Vorstellungskraft zu lebhaft und unsere Fantasie zügellos, dann wird dieses kleine Organ in Mitleidenschaft gezogen, und wenn die Anspannung die äußerste Grenze erreicht hat, beginnt der Wahnsinn oder die Raserei. Wenn wir uns vor dieser unaufhaltsamen Dissoziation ...‹«
Mordecai stolperte über dieses Wort.
»›... bewahren wollen, müssen wir unserer Phantasie, unserer Vorstellungskraft und desgleichen unseren Ängsten Zügel anlegen und alle eitlen und unnützen Gedanken, die unser Gehirn erregen könnten, daraus verbannen. Wir sind alle nur Menschen, und das Unheil, das unseren Bruder auf Grund seiner Phantastereien und Halluzinationen befallen hat - kann es nicht eines Tages auch uns heimsuchen?‹
Ist das nicht großartig? Ich kann mir genau vorstellen, mit welcher Befriedigung dieser alte Kerl das niedergeschrieben hat. ›Hab’ ich’s Euch nicht gesagt, Hugo? Hab’ ich Euch nicht immer gesagt, daß Eure Bilder gefährlich sind?‹ Aber was meinen Sie dazu? Warum ist er wohl wahnsinnig geworden?«
»Jeder kann wahnsinnig werden. Das ist kein Vorrecht der Maler. Oder der Dichter.«
»Hm. Wenn man sich’s genau überlegt, ist wahrscheinlich jeder verrückt. Meine Familie war’s bestimmt. Mammy - so haben wir sie weiß Gott genannt! - Mammy war verrückt mitsamt ihrem Heiligen Geist, und unser Alter war’s ohne ihn. Meine beiden Brüder waren Junkies, also auch verrückt. Verrückt und verrückt und verrückt und verrückt.«
»Was haben Sie denn?« Ich stand vom Bett auf und ging hinüber zu Mordecai, der immer erregter geworden war, schließlich am ganzen Körper bebte, die Augen zusammenkniff, die Hand aufs Herz preßte und bei den letzten Worten wie ein Erstickender nach Luft rang. Als ihm das schwere Buch entglitt und auf dem Boden aufschlug, öffnete er die Augen.
»Es geht ... schon wieder ... Muß mich einen Moment hinsetzen. Kleiner Schwindelanfall.«
Ich half ihm zur Couch und brachte ihm, da ich nichts anderes hatte, ein Glas Wasser, das ihm offenbar guttat. Aber seine Hände zitterten noch immer.
»Und doch ...«, sagte er leise, während er mit den plumpen Fingerkuppen die Rillen des Glases nachzeichnete, »und doch hat van der Goes etwas Besonderes an sich gehabt. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Etwas Besonderes hat natürlich jeder Künstler an sich. Eine Art Zauber, im wörtlichen Sinn. Er entschlüsselt die Chiffren der Natur und dann verschlüsselt er sie von neuem. So ist es doch, oder nicht?«
»Ich weiß nicht. Bei mir ist das, glaube ich, nicht so, aber es gibt viele Künstler, die das sehr gern von sich sagen würden. Die Sache mit dem Zauber ist allerdings problematisch. Er funktioniert nämlich nicht.«
»Und ob!« sagte Mordecai leise.
»Kann man sich über Gott lustig machen und gleichzeitig an Dämonen glauben?«
»Was sind Dämonen? Ich glaube an Elementargeister: Sylphen, Salamander, Nixen, Gnome - alles Verkörperungen der Elemente. Sie lächeln spöttisch und fühlen sich geborgen in dem jesuitischen Kosmos, von dem man Ihnen im College erzählt hat. Die Elemente sind für Sie nicht mehr geheimnisvoll, o nein! Genausowenig wie der Geist. Alles erforscht und hübsch eingeordnet wie in Mutters Wäscheschrank. Na ja, Maulwürfe fühlen sich im Kosmos auch wohl, wenngleich sie ihn nicht sehen können.«
»Mordecai, glauben Sie mir, ich wäre glücklich in einer Welt der Sylphen und Salamander; jeder Dichter wäre das. Worüber jammern wir denn seit zweihundert Jahren? Darüber, daß man uns aus dieser Welt vertrieben hat.«
»Und trotzdem lächeln Sie spöttisch, wenn man nur die Namen nennt. Sie denken dabei nur an russisches Ballett und an Glöckchengeklingel. Aber ich habe die Salamander gesehen, inmitten der Flammen!«
»Mordecai! Das Feuer für ein Element zu halten ist reiner Unsinn. Um sich das abzugewöhnen, genügen zwei Monate Chemieunterricht. Im Gymnasium, wohlgemerkt!«
»Feuer ist das Element der Verwandlung, der Transsubstantion«, sagte er in exaltiert-feierlichem Ton. »Es ist die Brücke zwischen Materie und Geist. Was ist es denn, das in den Herzen unserer Riesenzyklotronen lebt? Oder im Herz der Sonne? Sie glauben doch an Engel - die Boten
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