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Camp Concentration

Camp Concentration

Titel: Camp Concentration Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas M. Disch
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meinem Herzen kauernd, versucht er ständig, Macht über meinen Verstand zu gewinnen.
    Schuldbewußtsein ist freilich nur eine von vielen Empfindungen, die mich überfallen haben: Staunen, Bestürzung und noch viel mehr als das. Wie wenn einer den Himmel beobachtet - und plötzlich erscheint in seinem Blickfeld ein neuer Planet. Der Morgenstern. Luzifer, Fürst der Finsternis. Verführer.

    8. Juni
    Zuviel, zuviel! Ich habe den ganzen Tag geredet, geredet. Mein Gehirn ist wie eine Schallplatte, die man statt auf 33 auf 78 eingestellt hat. Ich habe, bis auf drei oder vier, sämtliche Gefangene (im ganzen sind es zwanzig) kennengelernt. In der Gruppe wirken sie noch beängstigender als allein. Die vielen Begegnungen hallen unablässig in mir nach wie musikalische Reminiszenzen nach einer Opernaufführung.
    Es begann damit, daß ein Wärter mir heute morgen George Wagners noch tintenfeuchte Einladung überbrachte, ihn in der Krankenstation zu besuchen. Kein Krankenhaus, nicht einmal Wrens Chelsea-Hospital, kann prächtiger ausgestattet sein. Georges Bett könnte von Tiepolo stammen. Und die Blumen vom Zöllner Rousseau. Wir unterhielten uns wieder über Rilke, den George weniger wegen seiner dichterischen Leistung als wegen seiner ketzerischen Ideen bewundert. Er hat einiges von ihm übersetzt. Ausgefallene Versmaße! Ich habe mit meiner Kritik zurückgehalten. Unterhielt mich mit ihm über seine Pläne bezüglich Faustus und erfuhr dabei von seinem Projekt eines vollkommenen Theaters. Es soll für ihn gebaut werden, hier unten ! (Inzwischen ist mir völlig klar, daß das Lager A tief unter der Erdoberfläche liegt.)
    Ich kann mich weder an alle Namen noch an alles, was gesprochen wurde, erinnern. Nur ein einziger aus der Gruppe, Murray Sowieso, ein manieriertes Bürschchen, war mir ausgesprochen unsympathisch, was auf Gegenseitigkeit zu beruhen schien. (Aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet; wahrscheinlich hat er mich überhaupt nicht bemerkt.) Er ereiferte sich über allerlei alchimistischen Unsinn. Was ich davon behalten habe, klang ungefähr so: »Zwei Hähne paaren sich in der Dunkelheit. Ihre Nachkommen sind Küken mit Drachenschwänzen. Nach siebenmal sieben Tagen werden sie verbrannt, und ihre Asche wird in Gefäßen aus geweihtem Blei zermahlen.« Dazu kann ich nur sagen: Blabla! Aber wie ernst er sein Blabla nahm! Später erfuhr ich, daß Mordecai ihn dazu bewogen hat, sich mit Alchimie zu beschäftigen.
    Am besten gefiel mir Barry Meade. Ich bin gern mit Leuten zusammen, die noch dicker sind als ich. Sein Hobby ist das Filmemachen. Um zwei Uhr, als George ein Schlafmittel bekommen hatte (es geht ihm sehr schlecht, aber ich weiß nicht, woran er erkrankt ist, und wenn ich die andern frage, bekomme ich die verschiedensten Antworten), führte mich Meade in den drei Stockwerke tiefer gelegenen Vorführraum und zeigte mir eine Filmmontage: Regierungserklärungen McNamaras und Bilder von schreienden Frauen aus einem alten Gruselfilm. Komik wurde zur Raserei. Barry, kühl und gelassen, wies immer wieder entschuldigend auf kaum wahrnehmbare technische Mängel hin.
    4 Uhr 30. George war aufgewacht, ignorierte mich aber und vertiefte sich in ein Mathematikbuch. Allmählich komme ich mir vor wie ein kleiner Junge, der seine Ferien bei kinderlosen Verwandten verbringt, die sich in die Aufgabe teilen, für seine Unterhaltung zu sorgen. Im Lauf des Nachmittags kam einer an die Reihe, der mir als ›Der Bischof‹ vorgestellt wurde. Diesen Spitznamen dürfte er seiner ausgefallenen Kleidung zu verdanken haben. Er erläuterte die Gesellschaftsordnung, die sich hier herausgebildet hat. Kurz zusammengefaßt: Mordecai herrscht auf Grund seiner starken persönlichen Ausstrahlung unangefochten über gutmütige Anarchisten. Der ›Bischof‹ ist nicht aus dem Militärgefängnis ins Lager Archimedes gekommen, sondern aus der Nervenheilanstalt für Armeeangehörige, wo er wegen totalen Gedächtnisschwundes zwei Jahre verbracht hat. Er hielt mir einen faszinierenden, halb komischen, halb schaurigen Vortrag über seine zahlreichen Selbstmordversuche. Einmal hat er einen Liter Bleifarbe getrunken. Irr!
    Später hat er mich beim Schachspielen völlig überfahren.
    Und danach veranstaltete Murray Sowieso ein Konzert mit elektronischer Musik. (Eigene Kompositionen? Jemand sagte ja, jemand sagte nein.) In meinem verrückten Zustand fand ich sogar daran Gefallen.
    Und so ging’s weiter. Eins türmte sich aufs andere. Ossa auf

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