Camp Concentration
befänden sich alle diese Teile in einem kugelförmigen Körper.
»Das ist mein Planetarium«, sagte Mordecai. »Genau nach meinen Angaben gebaut. Die Bewegung jedes dieser kleinen Monde und Planeten wird durch winzige eingebaute Radioelemente reguliert. Wie man’s aus Popular Electronics lernen kann, nicht wahr?«
»Und wozu brauchen Sie das?«
»Es spiegelt die Natur wider, genügt das nicht? Ich habe mich vor langer Zeit ein wenig mit Astrologie beschäftigt, aber für mich hatte sie immer nur symbolische Bedeutung. Für astronomische Studien gibt es droben ein Observatorium. Sieh da, das scheint Sie auf eine Idee gebracht zu haben! Sie träumen wohl vom großen Ausbruch, was? Keine Chance, Sacchetti! Wir kommen nie über das kleine Planetarium hinaus, in das durch unser lagereigenes Fernsehsystem alles übertragen wird, was droben im Teleskop zu sehen ist.«
»Sie sagten ›vor langer Zeit‹. Heißt das, daß Sie die Astrologie aufgegeben haben?«
Mordecai seufzte: »Das Leben ist so kurz. Man kann nicht alles tun. Denken Sie doch an die vielen leichten Mädchen, mit denen ich nie schlafen, und an die vielen Songs, nach denen ich nie tanzen werde. Und nach Europa wäre ich auch gern gefahren, um einen Blick auf all die Dinge zu werfen, von denen ich gelesen habe. Kultur. Aber das steht eben nicht in meinen Sternen. Ich werde Sie immer um Ihre Europareise beneiden. Es gibt dort so vieles, das ich auch gern gesehen hätte. Rom, Florenz, Venedig. Englische Kathedralen, Mont-Saint-Michel. Der Escorial. Brügge ...« Er zeigte auf das goldgerahmte Bild des blutenden Lammes. »... Cent. Eigentlich alles. Und was haben Sie sich angesehen, Sie verdammter Idiot? Nur die Schweiz und Deutschland! Du lieber Himmel, warum haben Sie sich ausgerechnet dort herumgetrieben? Was sind denn schon Berge? Warzen auf dem Gesicht der Erde! Und was nördlich der Alpen liegt ... Sehen Sie, ich war vier Jahre lang in Heidelberg stationiert, und wenn Sie mich fragen, hört Europa am Rhein auf. Der beste Beweis dafür ist, daß ich jeden Urlaub mit Biertrinken und Knödelessen verbracht und bis zur letzten Minute genossen habe. Außer wenn die Einheimischen mich wegen meiner ach so erstaunlichen Hautfarbe derart anstarrten, daß ich mir wie ein Überbleibsel aus Buchenwald vorkam. Deutschland!« Mordecai hatte sich in eine solche Erregung gesteigert, daß das Kaninchen erschrocken von seinem Schoß sprang. »Ebensogut könnte ich auf Urlaub nach Mississippi fahren.«
Ich kramte daraufhin ein paar Erinnerungen an mein Fulbright-Jahr aus, die zwar angenehm waren, aber nicht hierher gehörten, und erklärte ihm schuldbewußt, welche Gründe (Literatur, Musik) mich bewogen hatten, Europa zu verlassen und nach Deutschland zu fahren (eine Unterscheidung, die ich schweigend hinnahm).
»Rilke, Schmilke!« sagte Mordecai, als ich fertig war, » Bücher können Sie hier auch lesen. Geben Sie’s doch zu - die Faszination, die Deutschland in diesem Jahrhundert ausübt, ist die Faszination des Grauenhaften. Man fährt hin, um ein Fetzchen von dem Rauch zu erhaschen, der noch immer in der Luft hängt. Es würde mich interessieren - haben Sie einen Abstecher nach Dachau gemacht oder nicht?«
Ja, ich war hingefahren. Er bat mich, die Stadt und das Lager zu beschreiben. Sein Interesse an Einzelheiten war so groß, daß mein Gedächtnis nicht mithalten konnte. Trotzdem überraschte es mich, an wie viele Details ich mich nach so langer Zeit noch erinnern konnte.
Als er merkte, daß aus mir nichts mehr herauszuholen war, sagte Mordecai: »Ich habe Ihnen diese Fragen gestellt, weil ich in letzter Zeit von Todeslagern träume. Verständlich, nicht wahr? Zugegeben, der Vergleich mit unserer gemütlichen Bleibe hier im Westen hinkt. Abgesehen davon, daß ich ein Gefangener und zur Ausrottung bestimmt bin, kann ich nicht klagen. Aber eigentlich ist das jeder Mensch, nicht wahr?«
»Ein Gefangener? Ja, das Gefühl habe ich auch oft.«
»Nein, ich meine zum Abschlachten bestimmt. Der Unterschied ist nur, daß ich das Pech hatte, schon vorher einen Blick auf den Hinrichtungsbefehl zu werfen. Die meisten andern glauben, sie sollen sich duschen, wenn man sie zu den Öfen führt ...« Mit einem rauhen Lachen wandte er sich mir zu. (Ich war inzwischen zu seinem mechanischen Planetarium hinübergegangen.)
»Es ist ja nicht nur Deutschland«, sagte er. »Und nicht nur das Lager Archimedes. Es ist die ganze Welt. Die ganze gottverdammte Welt ist ein
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