Camp Concentration
Meades Zimmer ist vollgestopft mit Klapptischen aus der Heilsarmee (er dreht einen Film darüber). Murray Sandeman hat echte Bauhausmöbel. Und ich habe endlich Mordecais Rat befolgt, mein Zimmer nach meinem Geschmack einrichten zu lassen. Bis auf ein Feldbett, einen Tisch und einen Stuhl ist alles entfernt worden, und jetzt lasse ich meine Phantasie spielen. Aber immer, wenn ich glaube, die richtige Idee zu haben, stelle ich fest, daß mir die nackten Wände am liebsten sind.
Besuchszeiten. Entgegen dem Eindruck, den meine Aufzeichnungen erwecken, verbringen die Gefangenen nicht viel Zeit miteinander. Im Speisesaal und einigen anderen Räumen sind Unterhaltungen erlaubt, aber es ist gegen die ›Etikette‹, jemanden anzusprechen, dem man zufällig in der Bibliothek oder in den Gängen begegnet. Das ›gesellschaftliche‹ Leben spielt sich ziemlich formell ab. Gewöhnlich überbringen die Wärter Einladungen mit genau festgesetzten Anfangs- und Schlußzeiten. Jeder Gefangene denkt ständig daran, wie kurz die Frist ist, die ihm noch bleibt. Jeder sieht bereits den Pfeil der Zeit im Ziel vibrieren.
Morgen vielleicht mehr darüber.
Später
Erster Akt von Auschwitz fertig. Zweiter Akt macht Fortschritte.
19. Juni
Kennzeichen unseres unterirdischen Alltags (Fortsetzung):
Filme. Jeden Dienstag- und Donnerstagabend. Die Auswahl erfolgt durch Abstimmung auf einer Titelliste, auf der alle (außer mir) ihre Wünsche ankreuzen können. Gewöhnlich werden wöchentlich ein neuer und ein alter Film gezeigt. Programm dieser Woche: Fellinis erstaunliches Fragment Commedia, das endlich die Hürde des Bundesgerichtshofs genommen hat, und Griffiths Verfilmung von Ibsens Gespenstern. Der liederliche Vater und der kranke Sohn wurden vom selben Schauspieler dargestellt. Gegen Schluß wird offenbar ein Gelbfilter in den Projektor eingesetzt (vielleicht ist aber auch der Film selbst getönt), und dann läuft die Szene ab, in der der Held unter Bewegungsstörungen leidet - melodramatisch, aber ziemlich enervierend. Als Beiprogramm ein paar Zeichentrickfilme aus den vierziger Jahren und ein entsetzlich langweiliger Reisebericht (Forellenfang im schottischen Hochland). Warum sehen sie sich so was an? Wohl kaum, um eine Lagerpsychose abzureagieren (kein einziger hat gelacht). Vielleicht ist auch dies nur ein vergeblicher Versuch, sich mit der Welt der stummen Zuschauer draußen solidarisch zu fühlen.
Anderer Zeitvertreib: Seit George tot ist, hat niemand mehr Interesse an Theateraufführungen (allerdings ist es möglich, daß Auschwitz einstudiert wird, sobald ich damit fertig bin), aber gelegentlich liest einer der Gefangenen aus seinem jüngsten Werk oder führt irgend etwas vor oder veranstaltet eine Art Happening. Ich bin bisher nur einmal hingegangen und fand es noch langweiliger als Ferien in Schottland. Eines der jungen Genies las einen in Reimpaaren verfaßten alchimistischen Text. Blabla.
Teamsport. Jawohl, so unglaublich es klingt! Vor einigen Monaten erfand Mordecai eine raffinierte Krocketvariante (zum Teil auf dem von Lewis Carroll beschriebenen Spiel basierend). Die gegnerischen Mannschaften bestehen aus jeweils drei bis sieben Spielern. Jeden Freitagabend findet ein Match zwischen den ›Kolumbianern‹ und den ›Unitariern‹ statt. Diese Mannschaftsnamen klingen harmloser als sie sind. Sie beziehen sich auf die gegensätzlichen Meinungen, die in der Forschung über Wesen und Ursprung der Syphilis herrschen: Die kolumbianische Schule behauptet, der Erreger sei von den Seeleuten des Kolumbus aus der Neuen Welt nach Europa eingeschleppt worden (was die große Epidemie von 1495 erklären könnte), die Unitarier dagegen glauben, daß die anscheinend so verschiedenen Geschlechtskrankheiten in Wirklichkeit ein und dieselbe sind, die sie ›Treponematose‹ nennen und deren zahlreiche Erscheinungsformen sie mit den unterschiedlichen sozialen Verhältnissen, Lebensgewohnheiten und klimatischen Bedingungen erklären.
Einzelgängertum. Nicht verwunderlich, da ja gerade der Mangel an engen gesellschaftlichen und familiären Bindungen bei der Auswahl der Gefangenen eine Rolle gespielt hat. Gewiß, es gibt hier eine Art Gruppengeist, eine Art Gemeinschaft - aber es ist eine Gemeinschaft der Ausgestoßenen, ein Zusammenleben in kaltem Komfort. Die Ekstase der Liebe, die stilleren, aber dauerhafteren Freuden geistigen Schaffens und das normale, normative Glück, Jahr für Jahr die eigene Lebensform weiterentwickeln und mit
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