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Camp Concentration

Camp Concentration

Titel: Camp Concentration Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas M. Disch
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erleichtert.«
    Nun brachte der zweite Cherub eine goldene Platte mit Gebäck. Aquinas nahm ein Schokoladenéclair. Erst jetzt fiel mir auf, daß das winzige Skrotum des Engels furchtbar entzündet war und daß er sich deshalb so breitbeinig fortbewegte. Mein Gast bemerkte, daß ich hinsah.
    »Orchitis natürlich«, sagte er und biß in das Éclair, an dessen anderem Ende die Schlagsahne herausspritzte. »Hodenentzündung. Im Griechischen hießen die Hoden orchis . Danach ist übrigens auch die Orchidee benannt - wegen der Form ihrer Knollen. Es geht eben alles auf das gleiche zurück, auf Sex, S-E-X. Das Gebäck ist wirklich hervorragend!« Er nahm ein Stück Käsekuchen.
    »Sie haben natürlich darüber gelesen, daß mein Bruder Raynaldo mich auf Geheiß unserer Mutter entführen und im Turm von Roccasecca einsperren ließ, damit ich meiner Berufung nicht folgen könnte. Raynaldo war entschlossen, die Rolle des Verführers zu übernehmen. Er schickte eine junge Dame zu mir in die Zelle, ein blondes Mädchen, dessen Reize mir nicht entgingen, obwohl ich es mit einer brennenden Fackel hinausjagte. Um es am Wiederkommen zu hindern, brannte ich das Zeichen des Kreuzes in die Tür, und das war der Moment, in dem mir durch göttliche Gnade jene Erleuchtung zuteil wurde, von der ich vorhin gesprochen habe. Diese Geschichte wird immer wieder erzählt, aber sie hat eine Fortsetzung, die nicht so bekannt ist. Raynaldo versuchte meine Standhaftigkeit mit den verschiedensten Mitteln zu untergraben. Damals galt meine äußere Erscheinung als keineswegs unansehnlich. Ich war so schlank, wie sogar Sie es einmal waren, Sacchetti! Gertenschlank. Und ich bewegte mich geschmeidig wie ein Leopard. Aber in der engen Zelle konnte ich mich überhaupt nicht bewegen. Ich las - die Bibel und den Meister der Sentenzen - und ich schrieb - ein oder zwei unwichtige Werke - und ich betete. Aber notgedrungen mußte ich auch essen. Hunger ist ein ebenso mächtiger Trieb wie Sexualität und für unser körperliches Dasein sogar von noch fundamentalerer Bedeutung. Ich aß täglich vier, manchmal sogar fünf Mahlzeiten. Leckere Fleischgerichte und pikante Saucen und herrliches Gebäck - viel besser als das hier! - wurden ausschließlich für mich zubereitet. Ein- oder zweimal verweigerte ich die Nahrung und warf die Speisen aus dem Fenster oder zertrat sie, aber dann begann Raynaldo mich auszuhungern. Er ließ mir kein Essen bringen, drei, vier, fünf Tage lang, bis der Freitag oder ein anderer Fastentag herangekommen war. Und dann, o jemine, kam das herrlichste, reichlichste Essen! Ich konnte einfach nicht widerstehen, damals nicht und später auch nicht. Als ich Raynaldo entkommen war, mußte ich feststellen, daß ich an sämtlichen Fastentagen von entsetzlichem Hunger gequält wurde. Dann konnte ich weder beten noch lesen noch denken, bis ich diesen Hunger gestillt hatte. Und während sich in den folgenden Jahren meine geistige Existenz mit göttlicher Erleuchtung vollsog wie ein Schwamm mit Wasser, quoll meine leibliche Existenz, mein Körper, immer mehr auf. Hier!« Die Kapuze abwerfend, enthüllte er das, was einmal sein Gesicht gewesen war. Die Völlerei hatte nichts davon zurückgelassen als die ausladende Kiefer- und Kinnpartie, in der der vom Essen verschmierte Mund klaffte. Der schwabblige Fleischkloß ähnelte einer riesigen Hinterbacke; die Augen wirkten darin wie zwei winzige Grübchen.
    »Und jetzt möchten Sie sicher auch etwas von dem Kuchen. Doch, doch, ich habe bemerkt, wie gierig Sie die Platte angestarrt haben. Mopsi, der Augenblick ist da - bring Mr. Sacchetti die Botschaft!«
    Während seine beiden Gefährten mich an den Armen packten und auf die Knie zwangen, ging der dritte kaninchenköpfige Cherub auf mich zu. Das rosige Näschen schnupperte erwartungsvoll, die Fellflügel klappten ruckartig auf und zu. Die mollige Hand legte sich auf die blütenförmige, eiternde Wunde am Skrotum und zog eine dünne weiße Hostie mit unleserlichen Schriftzeichen hervor.
    »Ich ... ich weiß nicht, was das ... zu bedeuten hat.«
    »Sie müssen sie natürlich essen«, sagte Thomas Aquinas. »Dann werden Sie alles verstehen - wie ein Gott!«
    Der Cherub zwang mir die Hostie in den Mund, die den gleichen Geruch ausströmte, wie er vorhin aus dem Loch im Boden gedrungen war. Dann ließen mich die Engel los und begannen zu singen:

    O esca viatorum,
    O panis angelorum,
    O manna caelitum
    Esurientes ciba
    Dulcedine non priva,
    Corda

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