Camp Concentration
›Lebensfreude‹ ausstrahlen, reagiert er mit so abgrundtiefem Abscheu und Neid, daß er sich augenblicklich mit einer Mauer umgibt (wozu er sowieso neigt).
Während ich das schreibe, fallen mir meine boshaften Bemerkungen über Fredgren ein, und ich frage mich, ob ich mit Schipanskys Porträt nicht vielleicht mein eigenes gezeichnet habe. Sch. erscheint mir immer mehr wie mein gespenstisches Ebenbild, das Ebenbild jenes Louis Sacchetti, dem Mordecai damals in der Schulzeit den Beinamen ›Donovans Gehirn‹ gab.
Kann ich an Sch. wirklich keinen einzigen versöhnlichen Charakterzug entdecken? Er ist zum Beispiel witzig. Ich habe oft über seine Scherze gelacht, aber wenn ich mir’s genau überlege, macht er sich immer nur über sich selbst lustig, manchmal überdeutlich, manchmal versteckt. Das ist im Grund genauso deprimierend, wie wenn er nur dasitzt und schweigt. Diese unablässige Herabsetzung der eigenen Person (oder sollte ich ›Selbstbeschimpfung‹ sagen?) hat etwas Ungesundes, Narzißtisches.
Das Tragische an solchen Menschen ist, daß ihre einzige (und für manche Mitmenschen unwiderstehliche) Wirkung darin besteht, daß sie absolut nichts Liebenswertes an sich haben. Die Lippen solcher Aussätzigen zu küssen - das müßten die Heiligen lernen!
49.
Korrektur! Ich habe einen versöhnlichen Zug entdeckt!
Er gestand mir heute verlegen: »Ich liebe Musik.« Sein ganzes Leben hat er mir erzählt, aber daß er in seiner Freizeit ausschließlich seiner Musikbegeisterung frönt, hat er vergessen. Auf seinem Interessengebiet (Messiaen, Boulez, Stockhausen u. a.) weiß er sehr gut Bescheid, wenngleich er - bezeichnenderweise - sämtliche Werke nur von Schallplatten kennt. Er war noch nie in einem richtigen Konzert, noch nie in einer Opernaufführung! Schipansky ist eben kein geselliger Typ! Aber als er hörte, daß ich Et expecto resurrectionem mortuorum nicht kannte, entwickelte er einen geradezu missionarischen Eifer und schleppte mich zum Plattenspieler in der Bibliothek.
Und welche wundervolle neue Klangwelt tat sich mir auf! Nach Et expecto hörte ich Couleurs de la Cité Céleste, Chronochromie und Sept Haikai. Wo habe ich nur die ganze Zeit gelebt? (In Bayreuth wahrscheinlich!) Messiaen soll für die Musik so wegweisend sein wie Joyce für die Literatur. Da kann ich nur sagen: Hört, hört!
Inzwischen setze ich mein Bekehrungswerk fort. Sch. erwähnte, daß Malraux Et expecto zum Gedächtnis der Toten der beiden Weltkriege in Auftrag gegeben hatte. Da die Musik selbst geradezu dazu auffordert, sprach ich mit Sch. auch über ihren Anlaß. Wie die meisten seiner Altersgenossen reagiert er, wenn er an historische Ereignisse erinnert wird, mit Unwillen und Ungeduld. Die furchtbare Sinnlosigkeit dieser Kriege wird von seiner Generation nicht mehr als warnendes Beispiel empfunden. Aber wenn einer Pallidin in den Adern hat, dürfte es ihm schwerfallen, den Kopf im Sand stecken zu lassen.
50.
Schriftliche Aufforderung von Haast, ihn zu besuchen. Als ich zur vereinbarten Zeit in sein Büro ging, war er noch anderweitig beschäftigt. Ich wartete im Vorzimmer und blätterte, da ich sonst nichts Interessantes zu lesen fand, in einem auf dem Tisch liegenden Buch von Valéry. Mir fiel sofort eine dick unterstrichene Stelle auf:
»Getrieben von dem Ehrgeiz, einzigartig zu sein, angestachelt von dem Verlangen nach Allwissenheit, schreitet der mit großer Geisteskraft begabte Mensch über alles bisher Geschaffene, ja sogar über seine eigenen hochfliegenden Pläne hinweg; gleichzeitig aber muß er jede auf ihn selbst bezogene Empfindung und jede Rücksicht auf persönliche Wünsche aufgeben. Von einem Moment zum andern opfert er seine Individualität ... Vorher hat der Stolz seinen Verstand geleitet, jetzt aber ist der Stolz dahin ... Der Verstand erkennt sich selbst als nackt und bloß, als reduziert auf jenen Zustand äußerster Armut, der darin besteht, eine Kraft ohne Ziel zu sein ... Das Genie existiert ohne Instinkte und fast ohne Phantasie; es hat kein Ziel mehr; es hat mit nichts mehr Ähnlichkeit.«
An den Rand hatte jemand diesen Satz gekritzelt: »Das vollkommene Genie hat endlich aufgehört, menschlich zu sein.«
Als Haast mich empfing, fragte ich ihn, ob er wüßte, wer das Buch draußen liegengelassen hatte. (Ich hatte Skilliman in Verdacht.) Haast verneinte und sagte, ich sollte mich in der Bibliothek erkundigen. Dort erfuhr ich, daß der letzte, der das Buch ausgeliehen hatte, Mordecai
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