Camus, Albert
Jahrhunderts unterschiedslos die Menschen durcheinandermengt, bleibt der Feind der feindliche Bruder. Selbst in seinen Irrtümern angeprangert, kann er nicht verachtet noch gehasst werden: Das Unglück ist heute das gemeinsame Vaterland, das einzige irdische Königreich, das der Verheißung entsprochen hat.
Die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden muss auch zurückgestoßenwerden; sie fällt mit der Hinnahme der Ungerechtigkeit zusammen. Wer den glücklichen Gesellschaften nachweint, denen er in der Geschichte begegnet, gesteht, was er wünscht: nicht die Erleichterung des Elends, sondern sein Verstummen. Doch sei im Gegenteil die Zeit gelobt, wo das Elend schreit und den Schlaf der Gesättigten verhindert. Maistre sprach schon von der «schrecklichen Predigt, die die Revolution den Königen hielt». Sie hält sie heute und noch viel dringender den entehrten Eliten dieser Zeit. Man muss diese Predigt hören. In jedem Wort und jeder Handlung, sei sie auch verbrecherisch, liegt die Verheißung eines Werts, den wir suchen und zutage bringen müssen. Die Zukunft kann man nicht vorhersehen, und es kann sein, dass eine Renaissance unmöglich ist. Obwohl die geschichtliche Dialektik falsch und verbrecherisch ist, kann sich die Welt letzten Endes im Verbrechen, nach einer falschen Idee, verwirklichen. Bloß wird diese Art Resignation hier abgelehnt: Man muss auf die Renaissance setzen.
Es bleibt uns übrigens nur, zu sterben oder neu geboren zu werden. Wenn wir an dem Punkt sind, wo die Revolte an ihren äußersten Widerspruch stößt, indem sie sich selbst verneint, dann ist sie gezwungen, mit der Welt, die sie hervorgerufen hat, unterzugehen oder eine Treue und einen neuen Schwung wiederzufinden. Bevor wir weitergehen, müssen wir diesen Widerspruch aufklären. Er wird nicht ganz bestimmt, wenn man sagt, wie unsere Existenzialisten z. B. (die selbst, im Augenblick, dem Historismus und seinen Widersprüchen verfallen sind 93 ), es gäbe einen Fortschritt von derRevolte zur Revolution, und der Revoltierende sei nichts, wenn er nicht Revolutionär sei. Der Widerspruch ist in Wirklichkeit viel verwickelter. Der Revolutionär ist zu gleicher Zeit ein Revoltierender, oder er ist nicht mehr Revolutionär, sondern Polizist und Beamter, der sich gegen die Revolte wendet. Aber wenn er ein Revoltierender ist, wird er sich schließlich gegen die Revolution erheben. Derart, dass es von einer Haltung zur andern keinen Fortschritt gibt, sondern nur Gleichzeitigkeit und unausgesetzt wachsenden Widerspruch. Jeder Revolutionär endet als Unterdrücker oder als Ketzer. In der rein geschichtlichen Welt, die sie erwählt haben, münden Revolte und Revolution in dasselbe Dilemma ein: entweder Polizei oder Wahnsinn.
Auf dieser Ebene also gibt die Geschichte allein nichts her. Sie ist nicht Quelle des Werts, sondern abermals des Nihilismus. Kann man wenigstens auf der Ebene des ewigen Denkens gegen die Geschichte den Wert erschaffen? Das hieße der geschichtlichen Ungerechtigkeit und dem Elend der Menschen beipflichten. Die Verleumdung dieser Welt führt wieder zum Nihilismus, wie Nietzsche ihn definiert hat. Das Denken, das sich allein an der Geschichte bildet, wie dasjenige, das sich gegen die Geschichte wendet, raubt dem Menschen die Möglichkeit oder den Grund zum Leben. Ersteres treibt ihn zur äußersten Erniedrigung des ‹Wozu leben›, Letzteres zum ‹Wie leben›. Die Geschichte, notwendig, doch nicht genügend, ist also nur ein auslösendes Moment. Sie ist weder Abwesenheit des Werts noch der Wert selbst, nicht einmal der Rohstoff des Werts. Unter vielen ist sie eine Gelegenheit, wo der Mensch das noch ungewisse Bestehen eines Werts ahnen kann, der ihm zum Urteil über die Geschichte dient. Die Revolte selbst verspricht es uns.
Die absolute Revolution setzte tatsächlich die absolute Formbarkeit der menschlichen Natur voraus, ihre möglicheRückbildung auf den Stand einer Geschichtskraft. Aber die Revolte ist die Weigerung des Menschen, als Ding behandelt und auf die bloße Geschichte zurückgeführt zu werden. Sie ist die Bekräftigung einer allen Menschen gemeinsamen Natur, die sich der Welt der Macht entzieht. Die Geschichte ist zweifellos eine der Grenzen des Menschen; in diesem Sinn hat der Revolutionär recht. Aber der Mensch setzt in seiner Revolte seinerseits der Geschichte eine Grenze. An dieser Grenze steigt das Versprechen eines Werts auf. Gerade die Entstehung dieses Wertes bekämpft die cäsarische Revolution heute
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