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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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Schönheit geschaffen, die dem neuen Menschen unverständlich sein wird.
    Marx fragt sich freilich, wie die griechische Schönheit für uns noch schön sein kann. Er antwortet, diese Schönheit drücke die naive Kindheit einer Welt aus, und wir hätten, mitten in unseren Kämpfen der Erwachsenen, Sehnsucht nach dieser Kindheit. Doch wie können die Meisterwerke der italienischen Renaissance, wie kann Rembrandt und die chinesische Kunst für uns noch schön sein? Was tut’s! Der Prozess gegen die Kunst ist endgültig angestrengt und wird heute fortgesetzt mit der verlegenen Komplizität von Künstlern und Intellektuellen, die der Verleumdung ihrer Kunst und ihrer Intelligenz geweiht sind. Man bemerke in der Tat, dass in diesem Kampf zwischen Shakespeare und dem Schuster nicht der Schuster Shakespeare oder die Schönheit schmäht, sondern im Gegenteil derjenige, der weiterhin Shakespeare liest und sich nicht dazu entschließt, die Stiefel zu machen, die er, nebenbei bemerkt, niemals machen könnte. Die Künstler unserer Zeit gleichen den reuevollen Edelleuten im Russland des 19. Jahrhunderts; ihr schlechtes Gewissen ist ihre Entschuldigung. Doch das Letzte, was ein Künstler von seiner Kunst empfinden könnte, ist die Reue. Es hieße die einfache und notwendige Demut überschreiten, wollte man danach trachten, die Kunst ans Ende der Zeiten zu verbannen und bis dahin alle, den Schuster inbegriffen, dieses zusätzlichen Brots berauben, von dem man selber profitiert hat.
    Dieser asketische Wahnsinn hat indes seine Gründe, dieuns immerhin interessieren. Sie geben auf der Ebene der Ästhetik den schon geschilderten Kampf zwischen Revolte und Revolution wieder. In der Revolte entdeckt man die metaphysische Forderung nach Einheit, die Unmöglichkeit, ihrer habhaft zu werden, und die Herstellung einer Ersatzwelt. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Revolte eine Weltenherstellerin. Das kennzeichnet auch die Kunst. Die Forderung der Revolte ist in Tat und Wahrheit teilweise eine ästhetische. Jedes Denken der Revolte drückt sich, wie wir gesehen haben, in einer Rhetorik oder in einer geschlossenen Welt aus. Die Rhetorik der Stadtwälle bei Lukrez, die verriegelten Klöster und Schlösser bei Sade, die Insel oder der romantische Felsen, die einsamen Gipfel bei Nietzsche, das Urmeer bei Lautréamont, die Schutzwehren bei Rimbaud, die erschreckenden, von Blumengewittern heimgesuchten Schlösser der Surrealisten, das Gefängnis, die verschanzte Nation, das Konzentrationslager, das Reich der freien Sklaven beleuchten auf ihre Weise das gleiche Bedürfnis nach Widerspruchslosigkeit und Einheit. Über diese geschlossenen Welten kann der Mensch gebieten und endlich erkennen.
    Dies ist auch die Bewegung aller Künste. Der Künstler erschafft die Welt auf seine Rechnung neu. Die Natursymphonien kennen keinen Orgelpunkt. Die Welt ist nie still; selbst ihr Schweigen wiederholt ewig die gleichen Töne nach Schwingungen, die uns entgehen. Was die betrifft, die wir wahrnehmen, so setzen sie Klänge frei, selten einen Akkord, nie eine Melodie. Dennoch gibt es die Musik, wo die Symphonien zu Ende gehen, wo die Melodie Klängen ihre Form gibt, die von sich aus keine haben, wo schließlich eine privilegierte Anordnung von Tönen aus der naturgegebenen Unordnung eine für den Geist und das Herz befriedigende Einheit zieht.
    Van Gogh schreibt: «Ich glaube immer mehr, dass manden lieben Gott nicht nach dieser Welt beurteilen darf. Sie ist eine Studie von ihm, die misslungen ist.» Jeder Künstler versucht, diese Studie neu zu machen und ihr einen Stil zu geben, der ihr fehlt. Die größte und ehrgeizigste aller Künste, die Bildhauerkunst, geht mit Leidenschaft darauf aus, in den drei Dimensionen die flüchtige Gestalt des Menschen festzuhalten und den Wirrwarr der Gesten auf die Einheit des großen Stils zurückzuführen. Die Bildhauerei verwirft nicht die Ähnlichkeit, sie bedarf ihrer im Gegenteil. Aber sie sucht sie nicht in erster Linie auf. Was sie in ihren Blütezeiten sucht, das sind die Geste, der Gesichtszug oder der leere Blick, die alle Gesten und alle Blicke der Welt zusammenfassen. Ihr Anliegen ist nicht, nachzuahmen, sondern zu stilisieren und in einem bedeutsamen Ausdruck die flüchtigen Bewegungen der Körper und den unendlichen Wechsel der Haltungen einzufangen. Nur dann richtet sie auf der Giebelfront der lärmerfüllten Städte das Vorbild, die unbewegliche Vollkommenheit auf, die für einen Augenblick das unnatürliche Fieber

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