Camus, Albert
er sich das Recht über Leben und Tod der andern an. Als Hersteller von Kadavern und Untermenschen ist er selber ein Untermensch, nicht Gott, sondern der schmähliche Diener des Todes. Die rationale Revolution will ihrerseits den totalen Menschen von Marx verwirklichen. Sobald die Logik der Geschichte völlig hingenommen wird, führt sie entgegen ihrer höchsten Leidenschaft nach und nach dazu, den Menschen zusehends zu verstümmeln und sich selbst in objektives Verbrechen zu verwandeln. Es ist nicht richtig, die Ziele des Faschismus und des russischen Kommunismus einander gleichzusetzen. Ersterer stellt die Verherrlichung des Henkers durch den Henker dar, Letzterer die viel dramatischere Verherrlichung des Henkers durch die Opfer. Der Erstere hat nie davon geträumt, den ganzen Menschen zu befreien, sondern nur davon, einige zu befreien durch die Unterjochung der andern. Der Letztere strebt in seinem tiefsten Prinzip danach, alle Menschen zu befreien, indem er sie alle vorübergehend knechtet. Man muss seiner Absicht Größe zusprechen. Alleines ist richtig, beider Mittel mit dem politischen Zynismus zu identifizieren, den sie beide an der gleichen Quelle: dem moralischen Nihilismus, geschöpft haben. Alles geschah so, als benutzten die Abkömmlinge von Stirner und Netschajew diejenigen von Kaliayew und Proudhon. Die Nihilisten sitzen heute auf dem Thron. Die Gedanken, die vorgeben, unsere Welt im Namen der Revolution zu leiten, sind in Wirklichkeit eine Ideologie der Zustimmung, nicht der Auflehnung geworden. Darum ist unsere Zeit die der privaten und öffentlichen Vernichtungstechnik.
Im Gehorsam vor dem Nihilismus hat sich die Revolution in der Tat von ihren in der Revolte liegenden Ursprüngen abgewandt. Der Mensch, der den Tod und den Gott des Todes hasste, der an seinem persönlichen Fortleben verzweifelte, wollte sich befreien in der Unsterblichkeit der Gattung. Doch solange die Gruppe nicht die Welt beherrscht, muss man noch sterben. Die Zeit drängt also, die Überzeugung verlangt Muße, die Freundschaft einen Aufbau ohne Ende; der Terror bleibt somit der kürzeste Weg zur Unsterblichkeit. Aber diese äußersten Entartungen schreien gleichzeitig ihre Sehnsucht nach den ursprünglichen Werten der Revolte hinaus. Die zeitgenössische Revolution, die behauptet, jeden Wert zu leugnen, ist in sich schon ein Werturteil. Durch sie will der Mensch herrschen. Doch wozu herrschen, wenn das keinen Sinn hat? Weshalb die Unsterblichkeit, wenn das Antlitz des Lebens grässlich ist? Es gibt keinen völlig nihilistischen Gedanken, außer vielleicht im Selbstmord, ebenso wenig wie es keinen absoluten Materialismus gibt. Noch die Zerstörung des Menschen bestätigt den Menschen. Der Terror und die Konzentrationslager sind die extremsten Mittel, die der Mensch anwendet, um der Einsamkeit zu entgehen. Der Durst nach Einheit muss gestillt werden, sei es im Massengrab. Wenn sie Menschen töten, so deshalb, weil sie ihr sterbliches Geschickzurückweisen und die Unsterblichkeit für alle wollen. Sie töten sich dann auf eine bestimmte Weise. Aber sie beweisen zugleich, dass sie den Menschen nicht entbehren können; sie stillen einen fürchterlichen Hunger nach Brüderlichkeit. «Das Geschöpf soll Freude haben, und wenn es keine Freude hat, braucht es ein Geschöpf.» Diejenigen, die das Leiden am Sein und am Tod verweigern, wollen nun obenaus schwingen. «Die Einsamkeit ist die Macht», sagt Sade. Für Tausende von Einsamen besteht heute die Macht, weil sie das Leiden des andern bedeutet, das Bedürfnis nach dem andern. Der Terror ist die Ehrung, die hasserfüllte Einsame schließlich der Brüderlichkeit der Menschen darbringen.
Aber wenn der Nihilismus nicht ist, versucht er zu sein, und das genügt, die Welt zu verwüsten. Diese Raserei gab unserer Zeit ihr abstoßendes Gesicht. Aus dem Land der Menschlichkeit wurde dieses Europa ein Land der Unmenschlichkeit. Doch diese Zeit ist unsere, wie könnte man sie verleugnen? Wenn unsere Geschichte unsere Hölle ist, können wir unser Gesicht nicht davon abwenden. Diesem Grauen kann nicht ausgewichen, es kann nur aufgenommen und überwunden werden von denen, die es mit Klarsicht durchlebt haben, und nicht von denen, die es hervorgerufen und sich nun im Recht glauben, das Urteil zu sprechen. Ein solches Gewächs konnte in der Tat nur aus einer fetten Erde von angehäuften Ungerechtigkeiten emporschießen. Am äußersten Punkt eines Kampfes auf Leben und Tod, wo der Wahnsinn des
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