Camus, Albert
niedergeschlagen. Wenn er zu Boden geworfen ist, wird seine Schuld erwiesen sein. Im Übrigen liegt oder lag Trotzkijs oder Titos vorläufige Unschuld zu einem großen Teil an der Geographie, sie waren vom weltlichen Arm weit entfernt. Deshalb muss man ohne Aufschub diejenigen richten, die dieser Arm erreichen kann. Das endgültige Urteil der Geschichte hängt von einer Unzahl von Urteilen ab, die inzwischen ausgesprochen worden sind und die dann aufgehoben oder bestätigt sein werden. So verspricht man geheimnisvolle Rehabilitierungen für den Tag, da das Weltgericht zusammen mit der Welt selbst aufgebaut sein wird. Der eine, der sich Verräter und verachtenswert nennt, wird ins Pantheon der Menschen eintreten. Der andere wird in der Hölle der Geschichte bleiben. Doch wer wird dann richten? Der Mensch selbst, endlich in seiner jungen Göttlichkeit erfüllt. Inzwischen werden die, welche die Prophezeiung ausgeheckt haben, als Einzige befähigt, aus der Geschichte denSinn herauszulesen, den sie vorher hineingelegt haben, Urteile sprechen, die tödlich für den Schuldigen, vorübergehend allein für den Richter sind. Doch es kommt vor, dass die Richter, wie Rajk, selbst gerichtet werden. Man muss annehmen, er habe die Geschichte nicht mehr richtig gelesen. Seine Niederlage und sein Tod bezeugen es in der Tat. Wer garantiert demnach, dass seine heutigen Richter morgen nicht Verräter sein und von ihrem Richtstuhl hinab in die Zementkeller gestürzt werden, wo die Verdammten der Geschichte sich winden? Die Garantie liegt in ihrem unfehlbaren Scharfblick. Was beweist ihn? Ihr unaufhörlicher Erfolg. Die Welt des Prozesses ist eine kreisförmige Welt, in der Erfolg und Unschuld sich gegenseitig beglaubigen, in der alle Spiegel die gleiche Täuschung widerspiegeln.
So gäbe es eine geschichtliche Gnade 92 , deren Macht allein die Absichten der Menschen durchschauen kann und die den Untertan des Reichs begünstigt oder verstößt. Um sich vor ihren Launen zu schützen, verfügt dieser nur über den Glauben, wenigstens wie er in den ‹Geistlichen Übungen› des heiligen Ignatius beschrieben wird: «Um nie zu irren, müssen wir immer bereit sein, das für schwarz zu halten, was ich weiß sehe, wenn die hierarchische Kirche es so bestimmt.» Dieser aktive Glaube in die Vertreter der Wahrheit kann allein den Untertan vor den geheimnisvollen Verheerungen der Geschichte bewahren. Dennoch wird er so die Welt des Prozesses nicht los, an die er im Gegenteil durch das geschichtliche Gefühl der Furcht gebunden ist. Aber ohne diesen Glauben läuft er immer Gefahr, ohne es zu wollen und mit den besten Absichten der Welt, ein objektiver Verbrecher zu werden.
In diesem Begriff gipfelt schließlich die Welt des Prozesses. Mit ihm schließt sich der Kreis. Am Ende des langen Aufstands im Namen der menschlichen Unschuld erhebt sich, durch eine Entartung des Wesens, die Verkündung der allgemeinen Schuldhaftigkeit. Der Mensch ist ein Verbrecher, der sich nicht kennt. Der objektive Verbrecher ist gerade der, der sich unschuldig glaubte. Er hielt seine Tat subjektiv für harmlos oder sogar für die Zukunft der Gerechtigkeit günstig. Doch man beweist ihm, dass sie, objektiv gesehen, dieser Zukunft geschadet hat. Handelt es sich um eine wissenschaftliche Objektivität? Nein, aber um eine geschichtliche. Wie soll man wissen, ob die Zukunft der Gerechtigkeit beeinträchtigt ist z. B. durch die unbesonnene Aufdeckung einer gegenwärtigen Ungerechtigkeit? Die wirkliche Objektivität bestünde darin, nach den Ergebnissen zu urteilen, die man wissenschaftlich beobachten kann, nach den Tatsachen und ihren Tendenzen. Aber der Begriff der objektiven Schuld beweist, dass diese merkwürdige Objektivität nur auf Ergebnissen und Tatsachen begründet ist, die erst der Wissenschaft wenigstens des Jahres 2000 zugänglich sind. Inzwischen erschöpft sie sich in einer unausgesetzten Subjektivität, die sich den andern als Objektivität auferlegt: Das ist die philosophische Definition des Terrors. Diese Objektivität hat keinen definierbaren Sinn, die Macht jedoch gibt ihr einen Inhalt, indem sie schuldig befindet, was sie nicht billigt. Sie willigt ein, den außerhalb des Reichs lebenden Philosophen zu sagen oder sagen zu lassen, sie nehme damit im Hinblick auf die Geschichte ein Risiko auf sich, gleichwie es, ohne es zu wissen, der Schuldige getan. Der Fall wird später entschieden, wenn Opfer und Henker verschwunden sind. Doch dieser Trost hat nur für
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