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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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den Henker einen Wert, der seiner gerade nicht bedarf. Inzwischen werden die Gläubigen zu befremdlichen Festen geladen, wo nach streng beobachtetenRiten zerknirschte Opfer dem Gott der Geschichte dargebracht werden.
    Der direkte Nutzen dieses Begriffs liegt im Verbot der Gleichgültigkeit in Glaubenssachen. Das ist Zwangsevangelisierung. Das Gesetz, dessen Aufgabe die Verfolgung der Verdächtigen ist, produziert sie gerade. Indem es sie herstellt, bekehrt es sie. In der bürgerlichen Gesellschaft z. B. wird von jedem Bürger angenommen, dass er das Gesetz billigt. In der objektiven Gesellschaft nimmt man von jedem Bürger an, er missbillige es. Oder er muss wenigstens jederzeit zum Beweis des Gegenteils bereit sein. Schuld liegt nicht mehr in der Tat, sondern in der bloßen Abwesenheit des Glaubens, das erklärt den scheinbaren Widerspruch des objektiven Systems. Im kapitalistischen Regime gilt derjenige, der sich neutral nennt, als objektiv dem Regime freundlich gesinnt. Im Regime des Reichs gilt der gleiche Neutrale als objektiv dem Regime feindlich gesinnt. Das ist nicht verwunderlich. Wenn der Untertan des Reichs nicht an das Reich glaubt, ist er nach eigenem Entschluss, geschichtlich gesehen, nichts; er entscheidet sich also gegen die Geschichte, er ist ein Lästerer. Selbst ein Lippenbekenntnis genügt nicht, man muss leben und handeln, um dem Glauben zu dienen, ständig in Bereitschaft sein, um rechtzeitig dem Wechsel der Dogmen zuzustimmen. Beim geringsten Irrtum wird die potenzielle Schuld zur objektiven. Indem sie die Geschichte auf ihre Weise vollendet, begnügt sich die Revolution nicht damit, jede Revolte zu töten. Sie ist genötigt, jeden Menschen, bis zum knechtischsten herab, dafür verantwortlich zu halten, dass die Revolte bestanden hat und noch unter dem Himmel besteht. In der endlich errungenen und abgeschlossenen Welt des Prozesses wandert ein Volk von Schuldigen ohne Unterlass unter dem bitteren Blick der Großinquisitoren auf eine unmögliche Unschuld zu. Im 20. Jahrhundert ist die Macht traurig.
    Hier endet Prometheus’ überraschende Reise. Er schreit seinen Hass auf die Götter und seine Liebe zu den Menschen heraus, wendet sich verachtungsvoll von Zeus ab und kommt zu den Sterblichen, um sie zum Ansturm gegen den Himmel zu führen. Doch die Menschen sind schwach oder feig; man muss sie organisieren. Sie lieben das unmittelbare Vergnügen und Glück; man muss sie lehren, um zu wachsen, den Honig der Tage zu verschmähen. So wird auch Prometheus zum Lehrer, der zuerst lehrt, darauf befiehlt. Der Kampf dauert noch länger an und wird aufreibend. Die Menschen zweifeln zuerst am Sonnenstaat und seinem Bestehen. Man muss sie vor sich selbst retten. Der Held sagt ihnen darauf, er kenne den Staat, er allein. Die daran zweifeln, werden in die Wüste getrieben, an einen Felsen genagelt, den grausamen Vögeln zum Fraß vorgeworfen. Die andern gehen fortan im Dunkeln, hinter dem einsamen, gedankenversunkenen Meister. Prometheus, der Einsame, ist Gott geworden und herrscht über die Einsamkeit der Menschen. Aber von Zeus hat er nur die Einsamkeit und die Grausamkeit angenommen, er ist nicht mehr Prometheus, er ist Cäsar. Der wahre, ewige Prometheus hat nun die Gestalt eines seiner Opfer. Der gleiche Schrei aus der Tiefe der Zeit hallt noch immer in der Weite der skythischen Wüste.

Revolte und Revolution
    Die Revolution der Prinzipien tötet Gott in der Person seines Stellvertreters. Die Revolution des 20. Jahrhunderts tötet, was von Gott noch in den Prinzipien selbst übrig bleibt, und besiegelt den historischen Nihilismus. Welche Wege dieserNihilismus nun einschlagen mag, sobald er in diesem Jahrhundert außerhalb jeder Moral etwas erschaffen will, erbaut er den Tempel Cäsars. Sich für die Geschichte entscheiden und für sie allein heißt den Nihilismus erwählen entgegen den Lehren der Revolte. Diejenigen, die sich im Namen des Irrationalen in die Geschichte stürzen, mit dem Ruf, sie habe keinen Sinn, stoßen auf Knechtschaft und Terror und münden in die Welt der Konzentrationslager ein. Die sich in die Geschichte stürzen und ihre absolute Vernünftigkeit predigen, stoßen auf Knechtschaft und Terror und münden in die Welt der Konzentrationslager ein. Der Faschismus will die Heraufkunft von Nietzsches Übermenschen betreiben. Er entdeckt alsbald, dass Gott, wenn es ihn gibt, vielleicht dies oder jenes ist, aber zuerst der Herr des Todes. Will der Mensch sich zum Gott aufschwingen, maßt

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