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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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moderne Forderung einmünden lassen. Inhaltlich fügt er Epikur nichts hinzu. Auch er weist jedes Erklärungsprinzip zurück, das nicht den Sinnen zufällt. Das Atom ist nur der letzte Zufluchtsort, wo das anseine Urstoffe zurückgegebene Lebewesen eine Art tauber und blinder Unsterblichkeit fristen wird, ein unsterblicher Tod, der für Lukrez wie Epikur das einzige mögliche Glück darstellt. Er muss jedoch zugeben, dass die Atome sich nicht von selbst zusammenballen, und eher als ein höheres Gesetz oder am Ende das Schicksal, das er leugnen will, anzuerkennen, gibt er eine zufällige Bewegung zu, das Clinamen, demzufolge die Atome sich begegnen und sich aneinanderhängen. Schon da, schauen wir richtig hin, stellt sich das große Problem der Neuzeit, wo die Vernunft entdeckt, dass den Menschen dem Schicksal zu entziehen darauf hinausläuft, ihn dem Zufall zu überantworten. Deshalb bemüht sie sich, ihm ein Schicksal aufs Neue zu geben, ein historisches diesmal. Das gilt für Lukrez noch nicht. Sein Hass auf das Schicksal und den Tod begnügt sich mit dieser trunkenen Erde, wo die Atome das Leben aus Zufall erzeugen und wo das Leben aus Zufall in Atome auseinanderfällt. Die zugemauerte Festung wird zum verschanzten Lager. Moenia mundi, die Schutzwehr der Welt, ist eines der Schlüsselworte der Rhetorik des Lukrez. Freilich ist das Hauptanliegen in diesem Lager, die Hoffnung zum Schweigen zu bringen. Aber Epikurs methodischer Verzicht wandelt sich hier in eine bebende Askese, die sich manchmal mit Verwünschungen krönt. Die Frömmigkeit ist für Lukrez zweifellos «die Kraft, alles zu betrachten mit einem Geist, den nichts verwirrt». Aber dieser Geist zittert vor der Ungerechtigkeit, die dem Menschen angetan wird. Unter dem Druck der Entrüstung ziehen neue Begriffe von Verbrechen, Schuld und Unschuld sowie Strafe durch das große Gedicht über Die Natur der Dinge›. Dort ist die Rede von dem «ersten Verbrechen der Religion»: Iphigenie und ihre abgewürgte Unschuld, von jenem göttlichen Pfeil, der «oft den Schuldigen verfehlt und durch unverdiente Strafe den Unschuldigen des Lebens beraubt».Wenn Lukrez die Furcht vor der Strafe in einer andern Welt verspottet, so nicht, wie Epikur, aus einer defensiven Revolte, sondern aus einem aggressiven Gedanken heraus: Weshalb sollte das Böse bestraft werden, sehen wir doch jetzt schon zur Genüge, dass das Gute nicht belohnt wird.
    Epikur selbst wird in Lukrezens Gedicht der große Rebell, der er nicht war. «Während vor aller Augen die Menschheit ein verachtenswürdiges Leben fristete, erdrückt vom Gewicht einer Religion, deren Gesicht sich von der Höhe himmlischer Regionen herab zeigte, mit seinem grässlichen Anblick die Sterblichen bedrohend, wagte als Erster ein Grieche, ein Mann, seine sterblichen Augen gegen sie zu erheben und sich gegen sie aufzubäumen … Und dadurch ist die Religion nun umgestürzt und mit Füßen getreten, und uns erhebt der Sieg bis in den Himmel.» Man spürt hier den Unterschied zwischen dieser neuen Lästerung und der antiken Verfluchung. Die griechischen Helden konnten wünschen, Götter zu werden, doch zur gleichen Zeit wie die herrschenden Götter. Es handelte sich also um eine Rangerhöhung. Bei Lukrez hingegen schreitet der Mensch zur Revolution. Indem er die unwürdigen und verbrecherischen Götter leugnet, nimmt er selbst ihren Platz ein. Er verlässt das befestigte Lager und unternimmt die ersten Angriffe gegen die Gottheit im Namen des menschlichen Schmerzes. In der antiken Welt ist der Mord das Unerklärliche und Unsühnbare. Bei Lukrez wird der Mord des Menschen bereits zur Antwort auf den Mord der Götter. Nicht zufällig schließt das Gedicht des Lukrez mit dem gewaltigen Bild göttlicher Heiligtümer, die mit anklagenden Pestleichen vollgestopft sind.
    Diese neue Sprache kann man nicht verstehen ohne den Begriff eines persönlichen Gottes, der sich allmählich im Bewusstsein von Epikurs und Lukrezens Zeitgenossen bildet.Vom persönlichen Gott kann die Revolte persönlich Rechenschaft verlangen. Vom Augenblick seiner Herrschaft an erhebt sie sich mit wildester Bestimmtheit und spricht das unverrückbare Nein aus. Mit Kain fällt die erste Revolte mit dem ersten Verbrechen zusammen. Die Geschichte der Revolte, wie wir sie heute leben, ist weit mehr diejenige der Abkömmlinge Kains als diejenige der Schüler des Prometheus. In diesem Sinn setzt vor allen andern der Gott des Alten Testaments die Energie der Revolte in

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