Camus, Albert
Aber bis zu ihnen beschränkten sich die Freigeister darauf, die Geschichte Christi (‹diesen platten Roman› nach Sade) zu leugnen und gerade durch ihr Leugnen die Überlieferung eines furchtbaren Gottes aufrechtzuerhalten.
Solange das Abendland christlich war, waren dagegen die Evangelien Mittler zwischen Himmel und Erde. Auf jeden einsamen Schrei der Revolte wurde das Bild des größten Schmerzes vorgezeigt. Da Christus ja dies erlitten hatte, und mit vollem Willen, so ist kein Leiden mehr ungerecht, jeder Schmerz notwendig. In gewissem Sinne liegt die bittere Erkenntnis des Christentums und sein berechtigter Pessimismus hinsichtlich des Menschenherzens in der Tatsache, dassdie allgemein gewordene Ungerechtigkeit den Menschen ebenso befriedigt wie die vollständige Gerechtigkeit. Nur das Opfer eines unschuldigen Gottes konnte die lange und allgemeine Marterung der Unschuld rechtfertigen. Nur das Leiden Gottes, und das allerdrückendste, konnte die Agonie des Menschen erleichtern. Wenn vom Himmel bis zur Erde alles ausnahmslos dem Schmerz ausgeliefert ist, dann ist ein befremdliches Glück möglich.
Doch vom Augenblick an, da das Christentum am Ende seines Triumphes der Kritik der Vernunft unterworfen wurde, wurde in gleichem Maß, wie die Göttlichkeit Christi geleugnet wurde, der Schmerz aufs Neue zum Los der Menschen. Der betrogene Christus ist nur ein Unschuldiger mehr, den die Vertreter des Gottes Abrahams in öffentlicher Schaustellung hingerichtet haben. Der Abgrund, der den Herrn vom Sklaven trennt, öffnet sich von neuem, und die Revolte brüllt wieder vor dem versteinerten Gesicht eines eifersüchtigen Gottes. Die Denker und die freigeistigen Künstler haben diese neue Scheidung vorbereitet, indem sie, mit der üblichen Vorsicht, die Moral und die göttliche Natur Christi angriffen. Die Welt Callots schildert recht gut diese halluzinierenden Bettler, deren Hohnlächeln, anfangs versteckt, schließlich mit Molières Don Juan bis zum Himmel aufsteigt. Während der zwei Jahrhunderte, welche die zugleich revolutionären und profanierenden Umstürze am Ende des 18. Jahrhunderts vorbereiteten, bestand die ganze Bemühung der Freidenker darin, aus Christus einen Unschuldigen oder einen albernen Tropf zu machen, um ihn für die Welt der Menschen zu annektieren in dem, was sie an Edlem oder Lächerlichem besitzen. So war das Feld frei gemacht für die große Offensive gegen einen feindlichen Himmel.
Die absolute Verneinung
Historisch ist die erste zusammenhängende Offensive diejenige von Sade, der in einer einzigen enormen Kriegsmaschine die Argumente der Freidenker bis zu Jean Meslier und Voltaire zusammenfasste. Seine Verneinung ist auch, das versteht sich, die äußerste. Aus der Revolte leitet Sade einzig das absolute Nein ab. Siebenundzwanzig Jahre Gefängnis stimmen in der Tat einen Geist nicht versöhnlich. Eine so lange Einschließung erzeugt entweder Knechte oder Totschläger und manchmal im gleichen Menschen beide. Ist die Seele stark genug, um mitten im Bagno eine Moral aufzubauen, die keine solche der Unterwerfung ist, handelt es sich meistens um eine Moral der Beherrschung. Jede Ethik der Einsamkeit setzt die Macht voraus. In dieser Hinsicht, soweit er eine grausame Behandlung vonseiten der Gesellschaft grausam erwiderte, ist Sade ein Beispiel. Der Schriftsteller ist trotz einiger geglückter Aufschreie und der unbedachten Lobsprüche unserer Zeitgenossen zweitrangig. Er wird heute mit so viel Naivität bewundert aus Gründen, bei denen die Literatur nichts zu suchen hat.
Man rühmt ihn als den Philosophen in Ketten und den ersten Theoretiker der absoluten Revolte. Er konnte es tatsächlich sein. Im tiefen Gefängnis ist der Traum ohne Grenze, die Wirklichkeit bremst nichts. Der Geist verliert in den Ketten an Klarsicht, was er an Wildheit gewinnt. Sade kannte nur eine Logik, diejenige der Gefühle. Er gründete keine Philosophie, sondern verfolgte den grausigen Traum eines Verfolgten. Allein es trifft sich, dass dieser Traum prophetisch ist. Die erbitterte Forderung nach Freiheit führte Sade ins Reich der Knechtschaft; sein maßloser Durst nach einem fortan verbotenen Leben wurde, von einer Wut zurandern, gestillt durch den Traum einer allumfassenden Zerstörung. Darin zum mindesten ist Sade unser Zeitgenosse. Gehen wir seinen aufeinanderfolgenden Verneinungen nach.
Ein Schriftsteller
Ist Sade Atheist? Er sagt es, und man glaubt es, vor dem Gefängnis in dem ‹Zwiegespräch eines
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