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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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zuwenden, nicht mehr die Kraft haben zu lächeln, warum behaupten sie dann, uns ihre verzweifelten Zuckungen als Beispiele der Überlegenheit geben zu können?
    Der wahre Wahnsinn der Maßlosigkeit stirbt oder erschafft sein eigenes Maß. Er lässt nicht die andern sterben, um sich ein Alibi zu verschaffen. In der äußersten Zerrissenheit findet er seine Grenze, an welcher er sich, wie Kaliayew, opfert, wenn es sein muss. Das Maß ist nicht das Gegenteil der Revolte. Die Revolte ist das Maß, sie befiehlt es, verteidigt es und erschafft es neu durch die Geschichte und ihre Wirren hindurch. Gerade die Herkunft dieses Wertes bürgt dafür, dass er nicht anders sein kann als zerrissen. Das Maß, der Revolte entstammend, kann nur durch die Revolte erlebt werden. Es ist ein ständiger Konflikt, den der Geist ohne Ende hervorruft und meistert. Es siegt weder über das Unmögliche noch über den Abgrund, es hält ihnen die Waage.Was immer wir tun, die Maßlosigkeit wird stets ihren Platz im Herzen des Menschen bewahren, wo die Einsamkeit beheimatet ist. Wir tragen alle unsere Kerker, unsere Verbrechen und Verheerungen in uns. Doch unsere Aufgabe ist es nicht, sie in der Welt zu entfesseln, sondern sie in uns und in den andern zu bekämpfen. Die Revolte, der jahrhundertealte Wille, sich nicht zu beugen, von dem Barres sprach, steht heute noch am Beginn dieses Kampfes. Mutter der Formen, Quelle des wahren Lebens, hält sie uns immer aufrecht in der formlosen und wilden Bewegung der Geschichte.

Jenseits des Nihilismus
    Es gibt also für den Menschen eine Tat und ein Denken, das auf der mittleren Ebene, der seinigen, möglich ist. Jedes ehrgeizige Unternehmen erweist sich als widerspruchsvoll. Das Absolute wird nicht erreicht und vor allem nicht geschaffen durch die Geschichte. Die Politik ist nicht die Religion, oder dann die Inquisition. Wie würde die Gesellschaft ein Absolutes definieren? Jeder sucht vielleicht für alle dieses Absolute. Aber die Gesellschaft und die Politik haben nur die Aufgabe, die Angelegenheiten aller zu regeln, damit jeder Muße und Freiheit habe für diese gemeinsame Suche. Die Geschichte kann dann nicht mehr zum Gegenstand des Kults erhoben werden. Sie ist nur eine Gelegenheit, die es gilt, durch eine wachsame Revolte fruchtbar zu machen.
    «Die Besessenheit zu ernten und die Gleichgültigkeit der Geschichte gegenüber», schreibt René Char, «sind die beiden Enden meines Bogens.» Wenn die Zeit der Geschichte nicht aus der Zeit der Ernte besteht, ist die Geschichte in derTat nur ein flüchtiger und grausamer Schatten, an dem der Mensch keinen Anteil mehr hat. Wer sich dieser Geschichte anheimgibt, gibt sich dem Nichts anheim und ist seinerseits nichts. Wer sich jedoch der Zeit seines Lebens anvertraut, dem Haus, das er verteidigt, der Würde der Lebenden, der vertraut sich der Erde an und erhält die Ernte, die er von neuem sät und die ihn ernährt. Diejenigen schließlich führen die Geschichte voran, die im gegebenen Moment sich auch gegen sie aufzulehnen wissen. Das setzt eine ununterbrochene Spannung voraus und die angestrengte Heiterkeit, von der der gleiche Dichter spricht. Aber das wahre Leben ist im Innern dieser Zerrissenheit gegenwärtig. Es ist selbst diese Zerrissenheit, der Geist über Vulkanen von Licht schwebend, der Wahn der Rechtlichkeit, die aufreibende Unnachgiebigkeit des Maßes. Was uns am Ende dieses langen Abenteuers der Revolte entgegenklingt, sind nicht optimistische Formeln, sondern Worte des Muts und des Geistes, die, nahe dem Meer, sogar Tugend sind.
    Keine Weisheit kann heute mehr geben wollen. Die Revolte stößt dauernd an das Böse, von wo aus sie nur einen neuen Anlauf nehmen kann. Der Mensch kann alles in sich zügeln, was Zügelung verdient. Er muss in der Schöpfung alles in Ordnung bringen, was in Ordnung gebracht werden kann. Und darauf werden die Kinder immer zu Unrecht sterben, selbst in der vollkommenen Gesellschaft. Auch bei seiner größten Anstrengung kann der Mensch sich nur vornehmen, den Schmerz der Welt mengenmäßig zu vermindern. Aber Leiden und Ungerechtigkeit werden bleiben und, wie begrenzt auch immer, nie aufhören, der Skandal zu sein. Dimitri Karamasows ‹Warum› wird weiterhin ertönen; die Kunst und die Revolte werden erst mit dem letzten Menschen sterben.
    Es gibt zweifellos ein Übel, das die Menschen in ihrem rasendenWunsch nach Einheit anhäufen. Aber ein anderes Übel liegt dieser ungeordneten Bewegung zugrunde. Vor diesem Übel,

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