Camus, Albert
mit Liebe und Erfolg benützt. Die wahre und unmenschliche Maßlosigkeit liegt in der Aufteilung der Arbeit. Vor lauter Maßlosigkeit wird eines Tages eine Maschine mit hundert Arbeitsgängen, voneinem einzigen Menschen betreut, einen einzigen Gegenstand herstellen. Dieser Mensch wird, auf einer anderen Ebene, teilweise die Schöpferkraft wiedergewinnen, die er als Handwerker besaß. Der anonyme Produzent nähert sich dann dem Schöpfer. Natürlich ist es nicht sicher, dass die industrielle Maßlosigkeit sofort diesen Weg einschlagen wird. Aber sie weist schon durch ihre Arbeitsweise auf die Notwendigkeit eines Maßes und weckt das Denken, das dieses Maß zu gestalten weiß. Entweder wird dieser Wert einer Grenze auf jeden Fall geschaffen, oder die heutige Maßlosigkeit wird ihr Gesetz und ihren Frieden erst in der allgemeinen Vernichtung finden.
Dieses Gesetz des Maßes erstreckt sich ebenso auf alle Antinomien des revoltierenden Denkens. Weder ist das Wirkliche voll und ganz rational noch das Rationale voll und ganz wirklich. Wir sahen es beim Surrealismus, der Wunsch nach Einheit verlangt nicht nur, dass alles rational sei. Er will obendrein, dass das Irrationale nicht geopfert werde. Man kann nicht sagen, nichts habe einen Sinn, da man damit einen Wert bekräftigt, dem ein Urteil Geltung verleiht, aber auch nicht, alles habe einen Sinn, denn das Wort ‹alles› hat keine Bedeutung für uns. Das Irrationale begrenzt das Rationale, welches diesem wiederum das Maß gibt. Etwas hat schließlich einen Sinn, den wir dem Sinnlosen abringen müssen. Auf gleiche Weise kann man nicht sagen, das Sein sei nur auf der Stufe des Wesens. Wo soll man das Wesen erfassen, wenn nicht auf der Stufe der Existenz und des Werdens? Allein, man kann nicht sagen, das Sein sei nur Existenz. Was immer wird, kann nicht sein, ein Anfang ist nötig. Das Sein kann sich nur im Werden erfahren, das Werden ist nichts ohne das Sein. Die Welt ist nicht reine Starrheit, aber auch nicht nur Bewegung. Sie ist Bewegung und Starrheit. Die historische Dialektik z. B. flieht nicht unaufhörlich auf einen unbekanntenWert zu. Sie kreist um die Grenze, den ersten Wert. Heraklit, der Erfinder des Werdens, setzte jedoch diesem endlosen Ablauf eine Grenze. Nemesis, die Göttin des Maßes, verderblich den Maßlosen, war das Symbol dieser Grenze. Ein Denken, das die heutigen Widersprüche der Revolte einbeziehen will, müsste seine Inspiration bei dieser Göttin holen.
Die moralischen Antinomien beginnen auch im Licht dieses vermittelnden Wertes sich zu erhellen. Die Tugend kann sich vom Wirklichen nicht trennen, ohne ein Prinzip des Bösen zu werden. Ebenso wenig kann sie sich völlig mit dem Wirklichen identifizieren, ohne sich selbst zu verleugnen. Der von der Revolte zutage gebrachte moralische Wert steht schließlich nicht höher über dem Leben und der Geschichte, als die Geschichte und das Leben über ihm stehen. In Tat und Wahrheit gewinnt er nur Wirklichkeit, wenn ein Mensch für ihn sein Leben lässt oder es ihm weiht. Die jakobinische und bürgerliche Kultur setzt voraus, dass die Werte über der Geschichte stehen; ihre formale Tugend legt dann den Grund zu einer widerlichen Vortäuschung. Die Revolution des 20. Jahrhunderts verfügt, dass die Werte mit der Bewegung der Geschichte vermengt werden; ihre geschichtliche Vernunft rechtfertigt eine neue Mystifikation. Gegenüber dieser Verirrung lehrt uns das Maß, dass jede Moral ein Teil Wirklichkeit enthalten muss: Die reine Tugend ist mörderisch, und dass jeder Realismus einen Teil Moral braucht: Der Zynismus ist auch mörderisch. Deshalb ist das humanitäre Geschwafel nicht mehr begründet als die zynische Provokation. Der Mensch endlich ist nicht vollkommen schuldig, denn er hat die Geschichte nicht begonnen, doch auch nicht unschuldig, da er sie ja fortführt. Diejenigen, die diese Grenze überschreiten und seine völlige Unschuld beteuern, enden in der Wut einer endgültigen Schuld. Die Revolte stellt uns hingegen auf den Weg einer berechneten Schuld. Ihreeinzige, aber unbezwingliche Hoffnung wird im Grenzfall durch unschuldige Mörder verkörpert.
An dieser Grenze definiert das ‹Wir sind› paradoxerweise einen neuen Individualismus. ‹Wir sind› vor der Geschichte, und die Geschichte muss mit diesem ‹Wir sind› rechnen, das sich seinerseits in der Geschichte erhalten muss. Ich brauche die andern, und sie brauchen mich und einen jeden. Jedes kollektive Handeln, jede Gesellschaft setzt
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