Camus, Albert
eine Disziplin voraus; ohne dieses Gesetz ist das Individuum nur ein Fremdling, der vom Gewicht einer feindlichen Gemeinschaft niedergebeugt wird. Doch Gesellschaft und Disziplin werden richtungslos, wenn sie das ‹Wir sind› leugnen. In gewissem Sinn trage ich allein die gemeinsame Würde, die ich weder in mir noch in andern schmälern lassen kann. Dieser Individualismus ist nicht Genuss, sondern immer Kampf und manchmal Freude ohnegleichen auf dem Gipfel des stolzen Mitleids.
Das mittelmeerische Denken
Was die Frage betrifft, ob eine solche Haltung ihren politischen Ausdruck in der heutigen Welt findet, so ist es leicht, dies nur als Beispiel, den revolutionären Syndikalismus anzuführen. Ist dieser Syndikalismus selbst nicht unwirksam? Die Antwort ist einfach: Er gerade hat in einem Jahrhundert die Stellung des Arbeiters gewaltig verbessert vom Sechzehnstundentag bis zur Vierzigstundenwoche. Die Herrschaft der Ideologie hat den Sozialismus zum Rückschritt gebracht und die meisten gewerkschaftlichen Errungenschaften zerstört. Denn die Gewerkschaftsbewegung ging von der konkreten Grundlage aus, dem Beruf, der in der wirtschaftlichen Ordnung das ist, was in der politischen die Gemeinde: die lebendigeZelle, auf der sich der Organismus aufbaut, während die cäsarische Revolution von der Doktrin ausgeht und mit Gewalt die Wirklichkeit in sie einführt. Der Syndikalismus ist wie die Gemeinde die Verneinung des bürokratischen und abstrakten Zentralismus zugunsten der Wirklichkeit. 116 Die Revolution des 20. Jahrhunderts behauptet dagegen, sich auf die Wirtschaft zu stützen, und ist doch in erster Linie eine Politik und eine Ideologie. Sie kann aufgrund ihrer Funktion den Terror nicht vermeiden und die Gewalttätigkeit gegenüber der Realität. Trotz ihrer Behauptungen geht sie vom Absoluten aus, um die Wirklichkeit zu formen. Die Revolte stützt sich im Gegenteil auf die Wirklichkeit, um in einem unausgesetzten Kampf zur Wahrheit zu gelangen. Die Erstere versucht sich von oben nach unten zu vollziehen, die Letztere von unten nach oben. Weit entfernt von jeglicher Romantik, ergreift sie im Gegenteil für den wahren Realismus Partei. Wenn sie eine Revolution will, will sie sie zugunsten des Lebens und nicht gegen es. Daher stützt sie sich zuerst auf die konkreteste Wirklichkeit, den Beruf, das Dorf, durch die das Sein, das lebendige Herz der Dinge und der Menschen durchschimmern. Die Politik hat sich, ihrer Ansicht nach, diesen Wahrheiten zu beugen. Wenn sie schließlich die Geschichte fortschreiten lässt und den Schmerz der Menschen lindert, macht sie es ohne Terror, wenn nicht ohne Gewalt und unter den verschiedensten politischen Bedingungen. 117
Doch dieses Beispiel führt weiter, als es scheint. Genau am Tage, als die cäsarische Revolution über den Gewerkschaftsgeist obsiegt hat, verlor das revolutionäre Denken in sich selbst ein Gegengewicht, dessen es sich nicht, ohne zu verfallen, berauben kann. Dieses Gegengewicht, dieser Geist, der dem Leben Maß gibt, ist derjenige, der die lange Überlieferung dessen erfüllt, was man das Sonnendenken nennen kann, in welchem, seit den Griechen, die Natur stets mit dem Werden im Gleichgewicht stand. Die Geschichte der ersten Internationale, in der der deutsche Sozialismus unaufhörlich gegen das freiheitliche Denken der Franzosen, Spanier und Italiener ankämpft, ist die Geschichte des Kampfes zwischen der deutschen Ideologie und dem mittelmeerischen Geist 118 . Gemeinde gegen Staat, konkrete Gesellschaft gegen absolutistische Gesellschaft, überlegte Freiheit gegen rationale Tyrannei, altruistischer Individualismus gegen Kolonisierung der Massen lauten damals die Antinomien, die einmal mehr die Gegenüberstellung von Maß und Maßlosigkeit sichtbar machen, welche die Geschichte des Abendlandes seit der Antike erfüllt. Der eigentliche Konflikt dieses Jahrhunderts besteht vielleicht nicht so sehr zwischen den deutschen Ideologien, der Geschichte und der christlichen Politik, auf gewisse Weise Komplicen, als vielmehr zwischen den deutschen Träumen und der mittelmeerischen Tradition, der Gewalt des ewigen Jünglings und der männlichen Stärke, der Sehnsucht, angestachelt durch das Wissen und die Bücher, unddem im Laufe des Lebens erhellten und erhärteten Mut, der Geschichte schließlich und der Natur. Doch darin ist die deutsche Ideologie eine Erbin. In ihr vollenden sich zwanzig Jahrhunderte vergeblichen Kampfes gegen die Natur im Namen eines geschichtlichen
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