Camus, Albert
dass sie Gefahr läuft, nicht zu siegen und zu sterben. Aber entweder nimmt die Revolution dieses Wagnis auf sich, oder sie bekennt,nur das Unternehmen neuer Herren zu sein, der gleichen Verachtung unterworfen. Eine Revolution, die man von der Ehre lostrennt, verrät ihren Ursprung, der aus dem Reich der Ehre stammt. Ihre Entscheidung beschränkt sich auf jeden Fall auf die materielle Wirksamkeit und das Nichts oder das Wagnis und die Schöpfung. Die alten Revolutionäre gingen auf das Dringendste aus, und ihr Optimismus war vollkommen. Heute jedoch hat der revolutionäre Geist an Bewusstsein und Scharfblick zugenommen; er hat hundertfünfzig Jahre Erfahrung hinter sich, über die er nachdenken kann. Die Revolution hat ferner das Ansehen eines Festes eingebüßt. Sie ist für sich allein eine ungeheure Berechnung, die sich auf die Welt erstreckt. Selbst wenn sie es nicht eingesteht, weiß sie, dass sie weltumfassend oder gar nicht sein wird. Ihre Chancen sind im Gleichgewicht mit den Risiken eines Weltkrieges, der ihr, selbst im Falle eines Siegs, die Herrschaft nur über Ruinen einbringen wird. Sie kann also ihrem Nihilismus treu bleiben und in den Leichenkammern die Ultima Ratio der Geschichte verkörpern. Man müsste dann auf alles verzichten, außer auf die schweigende Musik, die die irdische Hölle verklären wird. Aber der revolutionäre Geist kann in Europa auch zum ersten und letzten Mal über seine Prinzipien nachdenken, sich fragen, welches die Abweichung ist, die ihn in die Irre leitet zu Terror und Krieg, und zusammen mit den Gründen seiner Revolte seine Treue wiederfinden.
Maß und Maßlosigkeit
Die revolutionäre Verirrung erklärt sich zunächst aus der Unkenntnis oder der systematischen Verkennung jener Grenze, die untrennbar von der menschlichen Natur zu sein scheint und die gerade die Revolte offenbart. Da das nihilistische Denken diese Grenze vernachlässigt, gibt es sich schließlich einer stets gleich beschleunigten Bewegung anheim. Nichts hält es mehr auf in seinen Konsequenzen, es rechtfertigt nun die totale Zerstörung oder die unbegrenzte Eroberung. Am Ende dieser langen Studie über die Revolte und den Nihilismus wissen wir, dass die Revolution ohne andere Grenze als die geschichtliche Wirksamkeit grenzenlose Knechtschaft bedeutet. Um diesem Schicksal zu entgehen, muss der revolutionäre Geist, wenn er lebendig bleiben will, zu den Quellen der Revolte zurückkehren und sich inspirieren lassen vom einzigen Denken, das diesen Ursprüngen treu geblieben, demjenigen der Grenzen. Wenn die von der Revolte entdeckte Grenze alles verwandelt, wenn jedes Denken, jede Tat, die einen gewissen Punkt übersteigt, sich selbst verneint, gibt es tatsächlich ein Maß der Dinge und des Menschen. In der Geschichte wie in der Psychologie ist die Revolte ein Pendel, dessen Schwingungen außer Rand und Band geraten, weil es seinen eigentlichen Rhythmus sucht. Aber diese Regellosigkeit ist nicht vollständig, sie vollzieht sich um einen Angelpunkt herum. Zu gleicher Zeit, da sie eine den Menschen gemeinsame Natur nahelegt, bringt die Revolte das Maß und die Grenze ans Licht, die das Prinzip dieser Natur sind.
Ohne es manchmal zu wissen, lässt heute jeder Gedanke, sei er nihilistisch oder positiv, dieses Maß der Dinge entstehen, das selbst die Wissenschaft bestätigt. Die Quanten, dieRelativität, die Unbestimmtheitsrelation stecken eine Welt ab, die definierbare Wirklichkeit nur im Maßstab der mittleren Größen hat, die die unsrigen sind. 114 Die Ideologien, die unsere Welt lenken, stammen aus der Zeit der wissenschaftlichen, absoluten Größen. Unsere wirklichen Kenntnisse erlauben hingegen nur ein Denken in relativen Größen. «Die Intelligenz», sagt Lazare Bickel, «ist unsere Fähigkeit, was wir denken, nicht auf die Spitze zu treiben, damit wir noch an eine Wirklichkeit glauben können.» Das Denken in Annäherungen erzeugt allein das Wirkliche. 115
Auch im Bereich der materiellen Kräfte gibt es keine, die in ihrem blinden Vorwärtsschreiten nicht ihr eigenes Maß heraufriefe. Aus diesem Grund ist es unnütz, die Technik umstürzen zu wollen. Das Zeitalter des Spinnrads ist vorbei, der Traum von einer handwerklichen Kultur ist eitel. Die Maschine ist nur in ihrer heutigen Anwendungsart schlecht. Man muss ihre Wohltaten annehmen, selbst wenn man ihre Verheerungen ablehnt. Der Lastwagen, der Tag und Nacht von seinem Fahrer gelenkt wird, demütigt diesen nicht, der ihn in- und auswendig kennt und
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