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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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Gottes zuerst und einer vergöttlichten Geschichte darauf. Das Christentum konnte zweifellos seinen katholischen Charakter nur dadurch gewinnen, dass es, was es nur immer konnte, an griechischem Denken in sich aufnahm. Aber als die Kirche ihr mittelmeerisches Erbe zerstreute, legte sie das Gewicht auf die Geschichte zum Nachteil der Natur, ließ sie das Gotische über das Romanische obenaus schwingen und forderte, indem sie eine Grenze in sich selbst zerstörte, immer stärker die zeitliche Macht und die geschichtliche Dynamik. Die Natur, die aufhört, Gegenstand der Betrachtung und Bewunderung zu sein, kann darauf nur noch der Stoff für eine Tat sein, die nach ihrer Umwandlung strebt. Diese Bestrebungen und nicht die Begriffe der Vermittlung, die die wahre Stärke des Christentums ausgemacht hätten, triumphieren heute, und dies, infolge einer gerechten Umkehr der Dinge, gegen das Christentum selbst. Wird Gott in der Tat aus dieser geschichtlichen Welt vertrieben, so entsteht die deutsche Ideologie, in der die Tat nicht mehr Vervollkommnung ist, sondern reine Eroberung, d. h. Tyrannei.
    Aber der geschichtliche Absolutismus hat trotz seiner Triumphe nie aufgehört, mit den unbezwinglichen Forderungen der menschlichen Natur zusammenzuprallen, deren Geheimnis das Mittelmeer mit seiner Verschwisterung von Geist und hartem Licht bewahrt. Das revoltierende Denken, das der Kommune oder des revolutionären Syndikalismus, hat diese Forderung dem bürgerlichen Nihilismus wie dem cäsarischen Sozialismus gegenüber immerfort verleugnet. Das autoritäre Denken, begünstigt durch drei Kriege und diephysische Vernichtung einer Elite von Rebellen, hat diese freiheitliche Tradition überflutet. Aber dieser armselige Sieg ist vorübergehend, der Kampf ist noch nicht zu Ende. Europa stand immer nur in diesem Kampf zwischen Mittag und Mitternacht. Es ist heruntergekommen, nur weil es diesen Kampf nicht durchstand und den Tag durch die Nacht verscheuchte. Die Zerstörung dieses Gleichgewichts trägt heute ihre verderblichsten Früchte. Unserer Mittler beraubt, von der natürlichen Schönheit verbannt, stehen wir von neuem in der Welt des Alten Testaments, bedrängt von grausamen Pharaonen und einem unerbittlichen Himmel.
    Im gemeinsamen Elend steht nun die alte Forderung wieder auf, von neuem erhebt sich die Natur vor der Geschichte. Es handelt sich wohlgemerkt nicht darum, etwas zu verachten oder eine Kultur gegen eine andere zu verherrlichen, sondern einfach darum, festzustellen, dass es ein Denken gibt, ohne das die Welt heute nicht länger auskommen kann. Es gibt wohl im russischen Volk etwas, das Europa die Kraft des Opfers verleihen kann, und in Amerika eine notwendige Macht der Konstruktion. Aber die Jugend der Welt steht immer am gleichen Ufer. In das gemeinsame Europa geworfen, in dem, der Schönheit und Freundschaft beraubt, die stolzeste aller Rassen stirbt, leben wir Mediterranen immer im gleichen Licht. Inmitten der europäischen Nacht erwartet das Sonnendenken, die Kultur mit dem doppelten Gesicht, die Morgendämmerung. Aber sie beleuchtet schon die Wege einer echten Überlegenheit.
    Die echte Überlegenheit besteht darin, die Vorurteile der Zeit zu überwinden und zuvörderst das tiefste und unglücklichste von ihnen, das besagt, der von der Maßlosigkeit befreite Mensch sei auf eine dürftige Weisheit beschränkt. Es ist wohl wahr, dass die Maßlosigkeit eine Heiligkeit sein kann, wenn sie mit Nietzsches Wahnsinn bezahlt wird. Aber dieseseelische Betrunkenheit, die sich auf der Bühne unserer Bildung zur Schau stellt, ist sie immer der Taumel der Maßlosigkeit, der Wahnsinn des Unmöglichen, dessen Brand den nicht mehr verlässt, der sich ihm nur einmal ausgesetzt hat? Hat Prometheus jemals dies Heloten- oder Staatsanwaltgesicht gehabt? Nein, unsere Kultur überlebt sich in der Gefälligkeit feiger oder gehässiger Seelen, durch die Ruhmsucht greisenhafter Jünglinge. Auch Luzifer ist mit Gott gestorben, und aus seiner Asche ist ein armseliger Dämon erstanden, der nicht einmal mehr sieht, wohin er sich vorwagt. Im Jahr 1950 ist die Maßlosigkeit immer eine Bequemlichkeit und manchmal eine Karriere. Das Maß hingegen ist eine reine Spannung. Es lächelt ohne Zweifel, und unsere Krampfjünger, mühsamen Apokalypsen geweiht, verachten es deshalb. Aber dieses Lächeln strahlt vom Gipfel einer ununterbrochenen Anstrengung: Es ist eine zusätzliche Kraft. Wenn diese kleinen Europäer, die uns ein habsüchtiges Gesicht

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