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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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vor dem Tod, schreit der Mensch von innen heraus nach Gerechtigkeit. Das geschichtliche Christentum hat auf diesen Protest gegen das Böse mit der Verkündigung des Königreichs geantwortet, darauf mit dem ewigen Leben, das den Glauben verlangt. Aber das Leiden nützt die Hoffnung und den Glauben ab; es bleibt allein und ohne Erklärung. Die Massen, der Arbeit, des Leidens und Sterbens müde, sind Massen ohne Gott. Unser Platz ist nunmehr an ihrer Seite, fern von den alten und neuen Doktoren. Das geschichtliche Christentum verschiebt die Heilung vom Bösen und vom Mord, die doch in der Geschichte erlitten werden, ins Jenseits der Geschichte. Der zeitgenössische Materialismus glaubt auch, alle Fragen beantworten zu können. Aber als Diener der Geschichte vergrößert er das Reich des geschichtlichen Mords und lässt ihn gleichzeitig ohne Rechtfertigung, außer in der Zukunft, die abermals den Glauben verlangt. In beiden Fällen muss man warten, und inzwischen hört der Unschuldige nicht auf zu sterben. Seit zwanzig Jahrhunderten hat die Summe des Bösen in der Welt nicht abgenommen. Keine Wiederkunft, weder eine göttliche noch eine revolutionäre, ist eingetreten. Eine Ungerechtigkeit haftet an jeglichem Leiden, auch an dem in den Augen der Menschen verdienten. Prometheus’ langes Schweigen vor der Gewalt, die ihn niederdrückt, schreit immer noch. Aber Prometheus sah inzwischen, wie die Menschen sich auch gegen ihn wenden und ihn verspotten. Bedrängt vom menschlichen Bösen und vom Schicksal, vom Terror und der Willkür, bleibt ihm nur die Kraft seiner Revolte, um vor dem Mord zu retten, was sich retten lässt, ohne dem Hochmut der Lästerung zu unterliegen.
    Man versteht nun, dass die Revolte nicht ohne eine sonderbareLiebe auskommt. Die weder in Gott noch in der Geschichte ihren Frieden finden, verurteilen sich dazu, für die zu leben, welche, wie sie, nicht leben können: die Gedemütigten. Die reinste Bewegung der Revolte wird dann vom erschütternden Schrei Karamasows gekrönt: Wenn sie nicht alle gerettet sind, wozu dann das Heil eines Einzigen! So weisen heute in den Gefängnissen Spaniens katholische Gefangene die Kommunion zurück, weil die Priester des Regimes sie in gewissen Gefängnissen obligatorisch erklärt haben. Auch sie, einzige Zeugen der gekreuzigten Unschuld, lehnen das Heil ab, wenn es mit der Ungerechtigkeit und der Unterdrückung bezahlt werden muss. Diese unerhörte Großmut ist der Revolte eigen, die ohne zu zögern ihre Kraft der Liebe gibt und unverzüglich die Ungerechtigkeit abweist. Ihre Ehre ist, nichts zu berechnen, alles an das jetzige Leben und ihre lebenden Brüder zu verteilen. So spendet sie für die kommenden Menschen. Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben.
    Die Revolte beweist dadurch, dass sie die Bewegung des Lebens selbst ist und dass man sie nicht leugnen kann, ohne auf das Leben zu verzichten. Ihr Aufschrei lässt jedes Mal ein Wesen sich erheben. Sie ist somit Liebe und Fruchtbarkeit, oder sie ist nichts. Die ehrlose Revolution, die Revolution der Berechnung, die, indem sie einen abstrakten Menschen demjenigen von Fleisch und Blut vorzieht, das Sein verleugnet, sooft es nötig ist, stellt genau an die Stelle der Liebe das Ressentiment. Sobald die Revolte, uneingedenk ihrer großmütigen Herkunft, sich vom Ressentiment anstecken lässt, leugnet sie das Leben, eilt zur Zerstörung und lässt die grinsende Kohorte jener kleinen Rebellen sich erheben, die, Sklavensaat, heute auf allen Märkten Europas sich zu jeglicher Knechtschaft anbietet. Sie ist nicht mehr Revolte oder Revolution,sondern Rachsucht und Tyrannei. Wenn nun die Revolution im Namen der Macht und der Geschichte diese mörderische und maßlose Mechanik wird, wird eine neue Revolte, im Namen des Maßes und des Lebens, heilig. Wir stehen an diesem Grenzpunkt. Am Ende dieser Finsternis ist ein Licht indes unvermeidlich, das wir schon ahnen und für das wir nur zu kämpfen haben, damit es sei. Über den Nihilismus hinaus bereiten wir alle in den Ruinen eine Renaissance vor. Doch wenige wissen es.
    Und schon kann die Revolte in der Tat, ohne zu behaupten, alles lösen zu können, wenigstens die Stirne bieten. Von dem Augenblick an erglänzt das Mittagslicht auf der Bewegung der Geschichte selbst. Um diese verzehrende Glut kämpfen Schatten einen kurzen Augenblick, verschwinden darauf, und Blinde, ihre Augenlider betastend, rufen, das sei die Geschichte.

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