Camus, Albert
verlangen. Sie nimmt selbst den Schmerz auf sich, wenn nur ihre Unversehrtheit respektiert bleibt.
Man versteht deshalb nicht, wieso Scheler den Geist der Revolte mit dem Ressentiment vollständig identifiziert. Seine Kritik des Ressentiments im Humanitarismus (von dem er spricht als der nichtchristlichen Form der Menschenliebe) kann vielleicht auf gewisse verschwommene Formen des humanitären Idealismus oder auf die Technik des Terrors angewandt werden. Aber sie trifft daneben, was die Auflehnung des Menschen gegen seine Lebensbedingungen betrifft, die Bewegung, welche das Individuum zur Verteidigung einer allen Menschen gemeinsamen Würde antreten lässt. Scheler will darlegen, dass der Humanitarismus vom Hass auf die Welt begleitet wird. Man liebt die Menschheit im Allgemeinen, um nicht die Menschen im Einzelnen lieben zu müssen. Das trifft für einige Fälle zu, und man versteht Scheler eher, wenn man sieht, dass der Humanitarismus sich für ihn in Bentham und Rousseau verkörpert. Aber die Leidenschaft des Menschen für den Menschen kann anderswo ihren Ursprung haben als in einer mathematischen Interessenrechnungoder in einem, übrigens theoretischen, Vertrauen in die menschliche Natur. Den Utilitaristen und dem Erzieher Emiles tritt jene Logik entgegen, die Dostojewski in Iwan Karamasow verkörpert hat und die von der Bewegung der Revolte bis zum metaphysischen Aufstand geht. Scheler, der das weiß, fasst diese Auffassung so zusammen: «Es gibt auf der Welt zu wenig Liebe, als dass man sie für etwas anderes als den Menschen verschwendet.» Selbst wenn dieser Satz richtig ist, verdiente die abgründige Verzweiflung, die er voraussetzt, etwas anderes als Verachtung. In Wirklichkeit verkennt er die Zerrissenheit in Karamasows Revolte. Iwans Drama entsteht jedoch aus der Tatsache zu vieler Liebe ohne Gegenstand. Da diese Liebe keine Anwendung findet und Gott geleugnet wird, beschließt man, im Namen einer großherzigen Komplicenschaft sie auf den Menschen zu übertragen.
Im Übrigen erwählt man sich in der Revolte, wie wir sie bis dahin betrachtet haben, kein abstraktes Ideal aus Herzensarmut oder zum Ziele steriler Forderungen. Man fordert, dass allein in Anschlag komme, was im Menschen sich nicht auf Ideen abziehen lasse, jener großherzige Teil von ihm, der zu nichts anderem dienen kann als zum Dasein. Heißt das, dass keine Revolte von Ressentiment geladen sei? Nein, und das wissen wir zur Genüge im Jahrhundert der Rachsucht. Doch müssen wir diesen Begriff in seinem weitesten Verstand nehmen bei der Gefahr, ihn sonst zu verfälschen; so gesehen, flutet die Revolte auf allen Seiten über das Ressentiment. Wenn Heathcliff in ‹Sturmhöhe› seine Liebe Gott vorzieht und die Hölle verlangt, um mit der vereint zu sein, die er liebt, so spricht nicht nur seine gedemütigte Jugend, sondern die brennende Erfahrung eines ganzen Lebens aus seinen Worten. Dieselbe Bewegung lässt Meister Eckart in einem erstaunlichen Anfall von Ketzerei sagen, er ziehedie Hölle mit Jesus dem Himmel ohne ihn vor. Das ist genau die Bewegung der Liebe. Entgegen Scheler kann man nicht genug Gewicht legen auf die leidenschaftliche Bejahung, die in der Bewegung der Revolte mitläuft und sie vom Ressentiment unterscheidet. Scheinbar negativ, da sie nichts erschafft, ist die Revolte dennoch zutiefst positiv, da sie offenbart, was im Menschen allezeit zu verteidigen ist.
Aber ist, in letzter Linie, die Revolte und der Wert, den sie mit sich führt, nicht relativ? Zusammen mit den Epochen und den Kulturen scheinen in der Tat die Gründe, weshalb man revoltiert, zu wechseln. Es ist offensichtlich, dass ein indischer Paria, ein Krieger des Inka-Reichs, ein Primitiver aus Zentralafrika oder ein Mitglied der ersten christlichen Gemeinschaft nicht die gleiche Vorstellung von der Revolte hatten. Man könnte sogar mit größter Wahrscheinlichkeit die Behauptung aufstellen, dass der Begriff Revolte in diesen Fällen keinen Sinn hat. Aber ein griechischer Sklave, ein Leibeigener, ein Condottiere der Renaissance, ein Pariser Bürger zur Zeit der Régence, ein russischer Intellektueller um 1900 und ein Arbeiter unserer Tage würden, selbst wenn sie über die Gründe der Revolte uneins wären, ohne jeden Zweifel über ihre Berechtigung einer Meinung sein. Anders ausgedrückt scheint das Problem der Revolte einen genauen Sinn nur innerhalb des abendländischen Denkens zu haben. Man könnte zur Verdeutlichung noch mit Scheler bemerken, dass der Geist
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