Camus, Albert
wächst aus der Bewegung der Revolte: die plötzlich durchbrechende Erkenntnis, dass im Menschen etwas ist, womit der Mensch sich identifizieren kann, sei es nur eine Zeitlang. Diese Identifizierung wurde bis jetzt nicht wirklich gefühlt. Alle Erpressungen vor der Aufstandsbewegung hat der Sklave geduldet. Oft hatte er, ohne zu reagieren, empörendere Befehle erhalten als denjenigen, der seine Weigerung auslöste. Er nahm sie mit Geduld auf, sträubte sich vielleicht im Innern gegen sie, aber, da er schwieg, mehr um sein unmittelbares Interesse bekümmert als seines Rechtes schon bewusst. Mit dem Verlust der Geduld, mit der Ungeduld, beginnt im Gegenteil eine Bewegung, die sich auf alles erstrecken kann, was vorher hingenommen wurde. Dieser Aufschwung ist fast immer rückwirkend. Im Augenblick, da er den demütigenden Befehl seines Oberen zurückweist, weist der Sklave auch sein Sklavendasein zurück. Die Bewegung der Revolte trägt ihn über den Punkt seiner einfachen Weigerung hinaus. Er überschreitetsogar die Grenze, die er seinem Gegner gezogen, indem er jetzt als Ebenbürtiger behandelt zu werden verlangt. Was zuerst ein unbeugsamer Widerstand des Menschen war, wird nun der ganze Mensch, der sich mit ihm identifiziert und sich darin erfüllt. Diesen Teil seiner selbst, dem er Respekt verschaffen wollte, stellt er nun über den Rest und verkündet laut, ihn allem, selbst dem Leben, vorzuziehen. Er wird für ihn das höchste Gut. Verharrte er zuvor in einem Kompromiss, so wirft sich der Sklave mit einem Schlag jetzt (‹da es ja so ist …›) an das Alles oder Nichts. Das Bewusstsein tritt zusammen mit der Revolte an den Tag.
Aber man sieht, es ist das Bewusstsein eines noch ziemlich dunklen ‹Alles› und zu gleicher Zeit eines ‹Nichts›, das die Möglichkeit anzeigt, den Menschen diesem ‹Alles› zu opfern. Der Revoltierende will alles sein, sich völlig mit diesem Gut identifizieren, dessen er plötzlich bewusst wurde und von dem er verlangt, dass es in seiner Person anerkannt und begrüßt werde – oder nichts, das heißt, er will sich endgültig herabgedrückt sehen von der Gewalt, die ihn beherrscht. Äußerstenfalls nimmt er den letzten Verfall hin: den Tod, wenn man ihm jene ausschließliche Anerkennung rauben sollte, die er nun zum Beispiel seine Freiheit nennt. Lieber aufrecht sterben als auf den Knien leben.
Der Wert stellt, laut angesehenen Autoren, ‹meist einen Übergang von der Tatsache zum Recht, vom Begehrten zum Begehrenswerten (im Allgemeinen durch Vermittlung des gemeinhin Begehrten) dar› 3 . Der Übergang zum Recht, haben wir gesehen, ist offenkundig. Ebenso der Übergang vom ‹so müsste es sein› zum ‹ich will, dass es so sei›. Aber vielleicht noch mehr der Begriff einer Übersteigerung des Einzelnen in einem fortan gemeinsamen Gut. Das Alles oderNichts zeigt, dass die Revolte, entgegen der landläufigen Meinung und ungeachtet ihres Ursprungs im Allerindividuellsten des Menschen, den Begriff selbst des Individuums in Frage stellt. Wenn das Individuum tatsächlich im Lauf der Revolte den Tod auf sich nimmt (und bei der Gelegenheit stirbt), so zeigt es dadurch, dass es sich opfert zugunsten eines Gutes, von dem es glaubt, dass es über sein eigenes Geschick hinausreicht. Wenn es die Aussicht auf den Tod der Abstreitung dieses Rechtes, das es verteidigt, vorzieht, heißt das, dass es das Letztere über sich selbst stellt. Es handelt also im Namen eines noch ungeklärten Wertes, von dem es jedoch zum mindesten fühlt, dass er ihm und allen anderen Menschen gemeinsam ist. Man sieht, dass die jedem Aufstand innewohnende Bejahung sich auf das erstreckt, was den Einzelnen insofern übersteigt, als es ihn aus seiner angeblichen Einsamkeit zieht und ihm einen Grund zum Handeln gibt. Doch ist es wichtig, jetzt schon zu bemerken, dass dieser Wert, der vor jeder Handlung vorausbesteht, den rein historischen Philosophien widerspricht, nach welchen ein Wert (wenn er sich überhaupt gewinnen lässt) erst am Ende einer Handlung gewonnen wird. Die Analyse der Revolte führt mindestens zum Verdacht, dass es, wie die Griechen dachten, im Gegensatz zu den Postulaten des heutigen Denkens eine menschliche Natur gibt. Weshalb revoltieren, wenn es nicht an sich etwas Dauerndes zu bewahren gibt. Für jegliche Existenz erhebt sich der Sklave, wenn er urteilt, dass durch einen bestimmten Befehl ihm etwas abgesprochen ist, was ihm nicht allein gehört, sondern allen Menschen gemein ist, in dem allen
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