Camus, Albert
muss die Revolte ihre Gründe in sich selbst finden, da sie sie nirgendwo anders finden kann. Sie muss einer Selbstuntersuchung zustimmen, um zu lernen, wie ihren Weg zu gehen.
Zwei Jahrhunderte metaphysischer oder historischer Revolte laden gerade zum Nachdenken ein. Nur ein Historiker könnte den Anspruch erheben, in allen Einzelheiten dieDoktrinen und Bewegungen darzustellen, die sich in dieser Zeit ablösten. Doch sollte es wenigstens möglich sein, einen durchgehenden Faden darin zu finden. Die folgenden Seiten stellen bloß einige historische Anhaltspunkte auf und eine Deutung der Quellen. Diese Deutung ist nicht die einzig mögliche; sie ist im Übrigen weit davon entfernt, alles zu erhellen. Aber sie erklärt teilweise die Laufrichtung und fast ganz die Maßlosigkeit unserer Zeit. Die außergewöhnliche Geschichte, die hier heraufbeschworen wird, ist die Geschichte von Europas Hochmut.
Die Revolte kann uns auf jeden Fall ihre Gründe erst am Ende einer Untersuchung ihrer Haltungen, Ansprüche und Gewinne aufdecken. In ihren Werken findet sich vielleicht die Regel des Handelns, die das Absurde uns nicht geben konnte, ein Hinweis wenigstens auf das Recht oder die Pflicht des Tötens, schließlich die Hoffnung auf eine Neuschöpfung. Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das sich weigert zu sein, was es ist. Die Frage ist, ob diese Weigerung ihn nur zur Vernichtung der andern und seiner selbst führen kann, ob jede Revolte mit der Rechtfertigung des allgemeinen Totschlags enden muss, oder ob sie im Gegenteil, ohne Anspruch auf eine unmögliche Schuldlosigkeit, das Prinzip einer angemessenen Schuld entdecken kann.
Der Mensch in der Revolte
Was ist ein Mensch in der Revolte? Ein Mensch, der nein sagt. Aber wenn er ablehnt, verzichtet er doch nicht, er ist auch ein Mensch, der ja sagt aus erster Regung heraus. Ein Sklave, der sein Leben lang Befehle erhielt, findet plötzlich einen neuen unerträglich. Was ist der Inhalt dieses ‹Nein›? Es bedeutet zum Beispiel: ‹das dauert schon zu lange›, ‹bis hierher und nicht weiter›, ‹sie gehen zu weit› und auch ‹es gibt eine Grenze, die sie nicht überschreiten werden›. Im Ganzen erhärtet dieses ‹Nein› das Bestehen einer Grenze. Dieselbe Vorstellung einer Grenze findet man in dem Gefühl des Revoltierenden, dass der andere ‹übertreibe›, dass er sein Recht über eine Grenze erstrecke, jenseits welcher ein anderes Recht ihm entgegentritt und es beschränkt. So ruht die Bewegung der Revolte zu gleicher Zeit auf der kategorischen Zurückweisung eines unerträglich empfundenen Eindringens wie auf der dunklen Gewissheit eines guten Rechts, oder genauer auf dem Eindruck des Revoltierenden, ‹ein Recht zu haben auf …› Die Revolte kommt nicht zustande ohne das Gefühl, irgendwo und auf irgendeine Art selbst recht zu haben. Insofern sagt der Sklave im Aufstand zugleich ja und nein. Er bestätigt gleichzeitig mit der Grenze alles, was er jenseits von ihr vermutet und schützen will. Er demonstriert hartnäckig, dass es in ihm etwas gibt, das ‹die Mühe lohnt›, das beachtet zu werden verlangt. In gewisser Weise stellt er der Ordnung, die ihn bedrückt, eine Art Recht entgegen, nicht bedrückt zu werden über das hinaus, was er zulassen kann.
Gleichzeitig mit dem Widerwillen gegen den Eindringling enthält jede Revolte eine völlige und unmittelbare Zustimmung des Menschen zu einem Teil seiner selbst. Er lässt also unausgesprochen ein Werturteil einfließen, und so wenig unverpflichtend, dass er mitten in der Gefahr an ihm festhält.Bisher schwieg er zum mindesten, jener Verzweiflung hingegeben, in welcher eine Lebensbedingung, selbst wenn man sie für ungerecht hält, hingenommen wird. Schweigen heißt glauben machen, dass man über nichts urteilt und nichts begehrt, und in gewissen Fällen heißt es in der Tat nichts wünschen. Die Verzweiflung beurteilt und begehrt wie das Absurde alles im Allgemeinen und nichts im Besonderen. Das Schweigen drückt sie gut aus. Doch vom Augenblick an, wo sie spricht, sei es auch verneinend, begehrt und beurteilt sie. Wer revoltiert, im etymologischen Wortsinn, macht kehrt. Er schritt unter der Peitsche des Herrn. Nun bietet er ihm die Stirn. Er stellt das Vorzuziehende dem Nichtvorzuziehenden gegenüber. Nicht jeder Wert löst die Revolte aus, doch jede revoltierende Bewegung ruft stillschweigend einen Wert an. Handelt es sich zum mindesten um einen Wert?
Eine Bewusstwerdung, sei sie noch so unbestimmt,
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