Camus, Albert
Mensch, der nichts hat, ist heute nichts.» Wenn dieser Satz in Wirklichkeit auch falsch ist, in der optimistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts war er beinahe wahr. Der außerordentlicheNiedergang, den die Wirtschaft des Wohlstands mit sich brachte, musste Marx dazu zwingen, den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen den ersten Platz einzuräumen und seine Prophezeiung der Herrschaft des Menschen noch stärker hervorzuheben. Man versteht nun besser die rein wirtschaftliche Erklärung der Geschichte, die Marx unternimmt. Wenn die Prinzipien lügen, ist allein die Wirklichkeit des Elends und der Arbeit wahr. Wenn man dann zeigen kann, dass sie zur Erklärung der Vergangenheit und der Zukunft des Menschen genügt, sind die Prinzipien und zugleich die Gesellschaft, die sich ihrer rühmt, für immer niedergeworfen. Diese Aufgabe stellt sich Marx.
Der Mensch tritt zusammen mit der Produktion und der Gesellschaft in die Welt. Die Ungleichheit der Länder, die mehr oder weniger schnelle Vervollkommnung der Produktionsmittel, der Kampf ums Dasein haben rasch soziale Ungleichheiten geschaffen, die sich in einem Gegenspiel von Produktion und Verteilung ausgeprägt haben, somit in einem Klassenkampf. Dieser Kampf, dieses Gegenspiel, ist die Triebkraft der Geschichte. Die antike Sklaverei, die lehnsherrliche Dienstbarkeit waren Etappen auf einem langen Weg, der beim Handwerk der klassischen Jahrhunderte endet, wo der Produzent auch Herr der Produktionsmittel ist. Dann fordert die Eröffnung der Weltstraßen, die Entdeckung neuer Absatzgebiete eine weniger provinzielle Produktion. Der Widerspruch zwischen der Produktionsweise und den neuen Notwendigkeiten der Verteilung kündet bereits das Ende der landwirtschaftlichen und industriellen Kleinproduktion an. Die industrielle Revolution, die Erfindung der Dampfkraft, die Konkurrenz um die Absatzmärkte führen schließlich unvermeidlicherweise zur Enteignung der Kleinbetriebe und zur Bildung großer Fabriken. Die Produktionsmittel sind nun in den Händen derer zentralisiert,die sie kaufen konnten; die wahren Produzenten, die Arbeiter, verfügen nur noch über die Kraft ihrer Arme, die sie dem ‹Mann mit dem Geldsack› verkaufen können. Der bürgerliche Kapitalismus zeichnet sich so durch die Trennung von Produktion und Produktionsmitteln aus. Aus dieser Gegensätzlichkeit ergibt sich eine Reihe von unausweichlichen Konsequenzen, die es Marx erlauben, das Ende aller sozialen Gegensätze anzukündigen.
Auf den ersten Blick, das wollen wir schon jetzt festhalten, gibt es keinen Grund, dass das fest aufgestellte Prinzip eines dialektischen Klassenkampfes mit einem Schlag aufhörte, wahr zu sein. Es ist immer wahr oder ist es nie gewesen. Marx sagt wohl, es werde nach der Revolution ebenso wenig Klassen geben, wie es nach 1789 geistliche Orden gegeben hat. Aber die Orden sind verschwunden, ohne dass die Klassen verschwinden, und nichts spricht dagegen, dass die Klassen nicht einem andern sozialen Gegenspiel Platz machen. Das Wesentliche der marxistischen Prophetie liegt jedoch in dieser Behauptung.
Das marxistische Schema ist bekannt. Nach Adam Smith und Ricardo definiert Marx den Wett jeder Ware nach der Arbeitsmenge, die sie herstellt. Die Arbeitsmenge, die der Proletarier dem Kapitalisten verkauft, ist ihrerseits eine Ware, deren Wert bestimmt ist durch die Arbeitsmenge, die sie herstellt, anders ausgedrückt durch den Wert der zu ihrer Erhaltung notwendigen Konsumgüter. Beim Kauf dieser Ware verpflichtet sich der Kapitalist, sie ausreichend zu bezahlen, damit der Verkäufer, der Arbeiter, sich ernähren und am Leben erhalten kann. Gleichzeitig erhält er jedoch das Recht, den Letzteren so lange arbeiten zu lassen, wie er nur kann. Er kann es sehr lange und mehr, als für die Bezahlung seines Unterhalts nötig ist. Wenn bei einem Arbeitstag von zwölf Stunden die Hälfte genügt, einen Wert zu produzieren, der demWert der Unterhaltsmittel entspricht, sind die übrigen Stunden unbezahlt, ein Mehrwert, der den eigentlichen Profit des Kapitalisten darstellt. Im Interesse des Kapitalisten liegt es also, die Arbeitsstunden auf ein Maximum auszudehnen, oder, wenn er das nicht mehr kann, den Ertrag des Arbeiters bis zum Äußersten zu steigern. Die erste Forderung ist Angelegenheit der Polizei und der Grausamkeit, die zweite eine solche der Arbeitsorganisation. Sie führt zuerst zur Arbeitsteilung und dann zur Anwendung der Maschine, die den Arbeiter entmenschlicht.
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