Camus, Albert

Offenbarung ans Ende der Geschichte zu stellen und nicht, wie die Überlieferung, an den Anfang der Welt. Die positivistische Ära, die notwendigerweise auf die metaphysische und theologische Ära folgen wird, soll das Auftreten einer Menschheitsreligion bezeichnen. Henri Gouhier definiert Comtes Anliegen richtig, wenn er sagt, es handelte sich für ihn darum, einen Menschen ohne Spuren von Gott zu finden. Comtes erstes Ziel, das darauf ausging, das Absolute durch das Relative zu ersetzen, wandelte sich durch den Zwang der Dinge bald in eine Vergöttlichung dieses Relativen um und in die Predigt einer universalen und zugleich transzendenzlosen Religion. Comte sah in der jakobinischen Vernunftanbetung eine Vorwegnahme des Positivismus und betrachtete sich mit gutem Recht als den wahren Nachfolger der Revolutionäre von 1789. Er setzte diese Revolution fort und erweiterte sie, indem er die Transzendenz der Prinzipien beseitigte und systematisch die Religion der Gattung begründete. Seine Formel «Gott beseitigen im Namen der Religion»heißt nichts anderes. Einen Wahnglauben einführend, der seither Schule gemacht hat, wollte er der Apostel Paulus dieser neuen Religion sein und den römischen Katholizismus durch denjenigen von Patis ersetzen. Es ist bekannt, dass er in den Kathedralen «die Statue der vergöttlichten Menschheit auf dem ehemaligen Altar Gottes» sehen wollte. Er rechnete genau aus, dass er den Positivismus vor dem Jahre 1860 in Notre-Dame zu predigen habe. Diese Rechnung war nicht so lächerlich, wie sie aussieht. Notre-Dame, wiewohl belagert, hält sich noch immer. Doch die Religion der Menschheit wurde tatsächlich gegen das Ende des 19. Jahrhunderts gepredigt, und Marx, obwohl er zweifellos Comte nicht gelesen hat, war einer ihrer Propheten. Marx hat nur verstanden, dass eine Religion ohne Transzendenz sich genaugenommen Politik nennt. Comte wusste das im Übrigen, oder er verstand doch zum mindesten, dass seine Religion zuvörderst eine Gesellschaftsvergötzung war und den politischen Realismus 73 , die Leugnung des individuellen Rechts und die Aufrichtung der Despotie voraussetzte. Eine Gesellschaft, deren Gelehrte ihre Priester wären, zweitausend Bankiers und Techniker über ein Europa von hundertzwanzig Millionen Einwohnern herrschend, wo das Privatleben vollständig mit dem öffentlichen Leben zusammenfiele, wo ein absoluter Gehorsam «der Tat, des Gedankens und des Herzens» dem allesbeherrschenden Großpriester erwiesen würde, das ist Comtes Utopie, der ankündigt, was man die horizontalen Religionen unserer Zeit nennen könnte. Sie ist freilich utopisch, weil er, von der erleuchtenden Macht der Wissenschaft überzeugt, eine Polizei vorauszusehen vergessen hat. Andere werden praktischer sein; die Religion derMenschheit wird tatsächlich gegründet werden, aber auf dem Blut und dem Schmerz der Menschen.
    Wenn man noch hinzufügt, dass Marx den bürgerlichen Nationalökonomen die ausschließliche Vorstellung von der industriellen Produktion in der Entwicklung der Menschheit verdankt, dass er das Wesentliche seiner Theorie vom Arbeitswert Ricardo, einem Volkswirtschaftler der bürgerlichen und industriellen Revolution, entnimmt, wird man uns das Recht zuerkennen, von seiner bürgerlichen Prophezeiung zu sprechen. Diese Zusammenstellung will nur zeigen, dass Marx, entgegen der Meinung der wirren Marxisten unserer Zeit, nicht Anfang und Ende 74 , sondern im Gegenteil der menschlichen Natur unterworfen ist: Er ist Erbe, bevor er Vorläufer ist. Seine Lehre, die realistisch sein wollte, war es tatsächlich zur Zeit der Religion der Wissenschaft, des Darwin’schen Evolutionismus, der Dampfmaschine und der Textilindustrie. Hundert Jahre später stieß die Wissenschaft auf die Relativität, die Ungewissheit und den Zufall; die Volkswirtschaft muss die Elektrizität berücksichtigen, die Eisenhütten und die Produktion von Atomenergie. Der Misserfolg des reinen Marxismus, sich diese Entdeckungen nacheinander einzuverleiben, ist zugleich derjenige des bürgerlichen Optimismus seiner Zeit. Er macht den Anspruch der Marxisten lächerlich, hundert Jahre alte Wahrheiten, ohne Einbuße ihrer Wissenschaftlichkeit, starr aufrechtzuerhalten. Der Messianismus des 19. Jahrhunderts, sei er revolutionär oder bürgerlich, hat den aufeinanderfolgenden Entwicklungenjener Wissenschaft und Geschichte nicht standgehalten, die er in verschiedenen Graden vergöttlicht hat.

    Die revolutionäre Prophezeiung

    Marxens