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Camus, Albert

Camus, Albert

Titel: Camus, Albert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Mensch in der Revolte
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bemerkte, die Gesellschaft sei «geschichtlich gezwungen, durch die Diktatur der Arbeiterklasse zu gehen». Was die Merkmale dieser Diktatur betrifft, sind seine Definitionen widerspruchsvoll. 76 Es steht fest, dass er den Staat mit klaren Worten verurteilt, indem er sagte, er und die Knechtschaft seien untrennbar. Er verwahrte sich aber gegen die doch zutreffende Beobachtung Bakunins, der den Begriff einer vorübergehenden Diktatur gegensätzlich fand zu dem, was man von der menschlichen Natur weiß. Marx dachte freilich, die dialektischen Wahrheiten stünden über den psychologischen. Was sagte die Dialektik? Dass «die Abschaffung des Staates nur bei den Kommunisten sinnvoll ist, als ein notwendiges Resultat der Abschaffung der Klassen; denn ihr Verschwinden zieht automatisch nach sich das Verschwinden des Bedürfnisses einer Klasse nach einer organisierten Macht zur Unterdrückung der andern». Nach der stehenden Formel trat dann die Regierung der Personen zurück hinter der Verwaltung der Sachen. Die Dialektik war also deutlich und rechtfertigte den proletarischen Staat nur während der Zeit, da die bürgerliche Klasse zerstört oder einverleibt werden sollte. Aber die Prophetie und der Fatalismus erlaubten zum Unglück andere Deutungen. Wenn das Königreich mit Sicherheit kommt, was bedeuten dann die Jahre? Das Leiden ist nie vorübergehend für denjenigen, der nicht an die Zukunft glaubt. Doch hundert Jahre der Schmerzen sind flüchtigin den Augen dessen, der für das hundertunderste Jahr das endgültige Reich verspricht. In der Blickrichtung der Prophetie ist nichts von Bedeutung. In jedem Fall errichtet das Proletariat, ist die bürgerliche Klasse einmal verschwunden, die Herrschaft des universalen Menschen auf dem Gipfel der Produktion, gerade durch die Logik der Produktionsentwicklung. Wer wird sich in diesem von Wundermaschinen brummenden Jerusalem noch an den Schrei der Umgebrachten erinnern?
    Das goldene Zeitalter, das ans Ende der Geschichte verschoben ist und durch doppelte Anziehungskraft mit einer Apokalypse zusammenfällt, rechtfertigt demnach alles. Man muss über den unglaublichen Ehrgeiz des Marxismus nachdenken, seine maßlosen Vorhersagen abschätzen, um zu verstehen, dass eine solche Hoffnung dazu zwingt, Probleme zu vernachlässigen, die dann zweitrangig erscheinen. «Der Kommunismus als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch den Menschen und für den Menschen, als Rückkehr des Menschen zu sich selbst als sozialem Menschen, d. h. als menschlichem Menschen, vollständige, bewusste Rückkehr, die alle Reichtümer der inneren Bewegung bewahrt, dieser Kommunismus, ein zu Ende geführter Naturalismus, fällt mit dem Humanismus zusammen: er ist das wirkliche Ende des Streits zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch … zwischen dem Wesen und dem Sein, zwischen der Objektivierung und der Selbstbehauptung, zwischen der Freiheit und der Notwendigkeit, zwischen dem Individuum und der Gattung. Er löst das Geheimnis der Geschichte und weiß, dass er es löst.» Nur die Sprache hat hier wissenschaftliche Ambitionen. Was den Inhalt betrifft, welcher Unterschied mit Fourier, der «fruchtbar gemachte Wüsten, trinkbares Meerwasser mit Veilchengeschmack, den ewigen Frühling» ankündigt. Der ewigeFrühling der Menschen wird uns in der Sprache einer Enzyklika verkündigt. Was kann der Mensch ohne Gott wollen und hoffen, wenn nicht das Reich des Menschen? Das erklärt die Verzückung der Schüler. «In einer Gesellschaft ohne Angst ist es leicht, den Tod zu ignorieren», sagt einer von ihnen. Aber die Todesangst, und das ist die wahre Verdammung unserer Gesellschaft, ist ein Luxus, der mehr den Müßiggänger trifft als den Arbeiter, den seine Aufgabe erstickt. Doch jeder Sozialismus ist utopisch, allen voran der wissenschaftliche. Die Utopie ersetzt Gott durch die Zukunft. Sie identifiziert die Zukunft mit der Moral, der einzige Wert ist der, der dieser Zukunft dient. Daher kommt es, dass sie fast immer zwangsausübend und autoritär war. 77 Als Utopist unterscheidet sich Marx von seinen schrecklichen Vorgängern nicht, und ein Teil seiner Lehre rechtfertigt seine Nachfolger.
    Man hat sicherlich mit Recht die ethische Forderung unterstrichen, die dem marxistischen Traum zugrunde liegt. 78 Bevor man den Fehlschlag des Marxismus untersucht, muss man sagen, dass sie die wahre Größe von Marx ausmacht. Er stellt die Arbeit, ihren ungerechten Niedergang und ihre tiefe Würde in den

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