Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
algerischen Einwanderer entgegen als eine Stadt der «gekreuzigten und ausgepeitschten Leiber», die den Körper und seine Begierden unter steifen Kleidern begräbt. Für das nervöse Reizklima der katholischen Kultur, die zwischen Reinheitsideal und Libertinage, Orthodoxie und Entgrenzung, Frömmigkeit und Blasphemie zerrissen ist, wird Camus immer unempfänglich bleiben. In den Tagen, in denen das Paris-Kapitel seines Lebens beginnt, notiert er im Tagebuch:
«Reißen wir die letzten Seiten des Evangeliums heraus, so wird uns eine menschliche Religion geboten, ein Kult der Einsamkeit und der Größe. Ihre Bitterkeit macht sie natürlich unerträglich. Aber hier liegt ihre Wahrheit und die Lüge alles Übrigen beschlossen» [118] .
Das ist die vorsichtige Umschreibung einer Ungeheuerlichkeit: Camus entwirft sich gleich in den ersten Tagen nach seiner Ankunft ein Christentum ohne Auferstehung, ohne Himmelfahrt und ohne Heiligen Geist. Ein Christentum, in dessen Zentrum die Verzweiflung des Gottessohnes steht, der sich am Kreuz für Augenblicke von Gott verlassen glaubt. In dieser Einsamkeit des von Gott verlassenen Christus erkennt Camus die Grund-Einsamkeit des Menschen wieder – vor allem die eines völlig verarmten nordafrikanischen Ankömmlings in einer der schillerndsten katholischen Kulturmetropolen des Westens, die von einer Bildungselite dominiert wird, deren Sprache er nicht spricht, deren Code er nicht beherrscht und deren Herkunft er nicht teilt.
Vollkommen allein ist er dennoch nicht und wird es nie sein. Pascal Pia macht ihn bald mit seinem Freund André Malraux bekannt, man verabredet sich zum Mittagessen. Camus befreundet sich mit den Setzern und Sekretärinnen beim
Paris
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Soir
, unter anderem mit der jungen Janine Thomasset, die am 4 . Januar 1960 hinter ihm in dem Auto sitzen wird, das ihr Mann, Michel Gallimard, auf der Landstraße bei Villeblevin gegen einen Baum fährt. Als habe er eine Ahnung, wie wenig Zeit ihm noch bleibt, schreibt er in diesen Wochen an Yvonne Ducailar, die zurückgelassene Geliebte in Algier: «Ich werde Journalist sein und jung sterben» – «warum sollte man den Leben nachtrauern, die man nicht gehabt hat?» [119]
Seit zwei Jahren trägt er den
Fremden
mit sich herum. Manchmal meint er, in seinem Kopf sei alles schon fertig. Manchmal glaubt er, nichts als Unsinn zu Papier gebracht zu haben. Manchmal treffen ihn seine eigenen Sätze wie ein Blitz, und er ist von ihrer Wahrheit restlos überzeugt. Camus arbeitet jetzt Tag und Nacht an den beiden Werken, die ihn unsterblich machen werden, und in gewisser Weise ist es ein Wettlauf mit der deutschen Wehrmacht.
Er weiß, Paris hat ihm diese Konzentration ermöglicht. An seine Oraner Geliebte Francine schreibt er: «und ich glaube, dass ich Paris alles verzeihen kann, weil es mir erlaubt hat, so ganz und gar in meine Arbeit abgekapselt zu leben» [120] . Die Pariser Wüste und das einsame Hotelzimmer kann man zwischen den Sätzen des
Fremden
noch immer herauslesen. Im Tagebuch pflegt er den Mythos des Dachstubeneremiten, der den Ratschlag von Blaise Pascal beherzigt und sein Leben allein in seinem Zimmer verbringt, unerreichbar und unbeeindruckt von seiner Zeit; die ersten sechs Wochen verlängert Camus in die Zukunft:
«Wie kommt es, dass die Fähigkeit, ein Jahr allein in einem ärmlichen Zimmer in Paris zu wohnen, den Menschen mehr lehrt als hundert literarische Salons und vierzig Jahre Erfahrung im ‹Pariser Leben›. Es ist etwas Hartes, Entsetzliches, zuweilen Peinigendes, und stets dem Wahnsinn so nahe. Aber in dieser Nachbarschaft muss das Wesen eines Menschen sich stählen – oder zugrunde gehen.»
In Wahrheit passt die heroische Einsamkeitspose – der Einzelgänger, der in einer ärmlichen Pariser Klause seine Socken in einer kleinen Plastikschüssel wäscht und ziellos durch die Stadt streunt, ist seit Emmanuel Bove ein Klassiker der französischen Junggesellenliteratur – überhaupt nicht zu Camus. Der war bisher kein der Weltverachtung zugeneigter Außenseiter, sondern ein zur Freundschaft begabter, gegenwartshungriger Mensch. Am wohlsten fühlt er sich in der Fußballmannschaft, im Redaktionsteam oder unter seinen Schauspielern. Doch Paris hat ihn verändert. Die sonnendurchglühte emphatische Tonlage seiner frühen algerischen Texte wird er nie wieder finden. Und den anspielungsreichen, perlend-urbanen Stil der Pariser Intelligenz wird er nie beherrschen. Aus dieser Not entsteht der einzigartige
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