Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Herrscher eines untergehenden Großreiches, lässt seine Untertanen ermorden wie lästige Fliegen – ein Hitler, ein Stalin in römischen Sandalen. Seine verschreckten Opfer richten ihre Gebete an die «Göttin der Schmerzen und des Tanzes»: «Du, Leere und Glutverzehrte, Unmenschliche und doch so Irdische, berausche uns mit dem Wein deiner Gleichwertigkeit und sättige uns auf immer in deinem Herzen voll Schwärze und Salz». [115]
Die kalte Raserei des römischen Imperators nimmt den Nihilismus der Jahrhundertwende beim Wort – wenn nichts mehr zählt, ist alles erlaubt. Später wird Camus behaupten, der Gewaltrausch des Caligula sei nur eine Phase innerhalb seines Werks gewesen, ein Kapitel im Bildungsroman, das er hinter sich bringen musste. Er wird Caligulas Amoklauf «die Geschichte des menschlichsten und tragischsten aller Irrtümer» nennen – als hätte der delirierende Imperator sich mit etwas mehr Anstrengung auch ziviler benehmen können; er soll letztlich gelernt haben, dass «die Freiheit nicht auf Kosten der anderen verwirklicht werden kann». [116] Sein Autor wird so tun, als sei er nie von den Nachtseiten des Immoralismus fasziniert gewesen.
Jetzt, im Januar 1940 , ist Camus noch immer krank. Tag für Tag sitzt er rauchend und schreibend auf seinem Zimmer in Oran. Sein Platz ist nicht mehr an den Stränden, auf den Meeresklippen, auf dem Fußballfeld, sondern im Lungensanatorium. Er ist ein Kandidat für den Zauberberg, ein Tuberkulosefall, der dem Leben mit einer Wolldecke über den Knien vom Liegestuhl aus zusehen sollte. Er ahnt, dass er jung sterben wird. Camus denkt aus der Panik eines Todeskandidaten. Die Bücher, die er noch schreiben wird, sind die eines Menschen, der davon überzeugt ist, keine Zeit mehr zu haben – für den Aufschub des Glücks, für die Verstellungskünste der Zivilisation, für das Irgendwann der Geschichtsteleologie.
Man muss ihm nicht glauben, dass die Raserei eines Verzweifelten wie Caligula nur eine Passage sei auf dem Weg zur bürgerlichen Vernunft. Er ist dabei, sich zu verbrennen. Er verbraucht sich selbst und alles um ihn herum: Zigaretten, Frauen, Gefühle, Kräfte.
Am Donnerstag, dem 14 . März 1940 , verlässt Camus seine Heimat. Er ist zu Schiff – nach Frankreich.
6. Kapitel Die Welt
Ort und Zeit:
Paris, Frühjahr 1940 . Clermont-Ferrand, Juni 1940 . Lyon, Herbst und Winter 1940 .
Ein Algerier in Paris
Paris ist kalt und sonnig. Die Männer sind an der Front. Die Frauen flanieren auf den Boulevards. Simone de Beauvoir sitzt im Café Aux deux Magots, im Dôme, in der Rotonde oder in der Brasserie des Hotels Lutétia und schreibt täglich an Sartre, wobei sie ihre neu erworbenen Haarbänder mit derselben Akkuratesse vermerkt wie ihre Liebhaber und Liebhaberinnen. Sie geht ins Theater, zum Friseur, trinkt Cocktails in der Bar des Dôme. Im Hintergrund, immer näher kommend, der Krieg.
Man kann sich dieses Paris heute beinahe nur in Schwarzweiß vorstellen. Lange Mäntel, ernste Gesichter, Intellektuelle, die an den Caféhaustischen zusammenklumpen wie Rugbyspieler kurz vor dem Anpfiff. Die Busse fahren, die Geschäfte haben geöffnet, Vorlesungen werden gehalten, Bücher und Zeitungen erscheinen, in der Pariser Oper gibt man die «Zauberflöte». Aber es liegt etwas Unwirkliches in der Luft – vielleicht ist dies alles nur eine Kulisse, die jederzeit zusammenklappen kann.
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Paris unter deutscher Besatzung, Einmarsch im Juni 1940
Am 16 . März 1940 , einem Samstag, kommt Albert Camus in Paris an. Er weiß noch nicht, dass es endgültig ist. Er weiß noch nicht, dass Paris ihn erobern und nicht mehr loslassen wird. Noch glaubt er an einen vorübergehenden Aufenthalt. Er hält sich für einen Mann des Mittelmeers und der Sonne. Er will zurück. Er ist verliebt in Francine, die in Oran geblieben ist, Klavier spielt und Mathematik unterrichtet. Er ist verliebt in Yvonne, die in Algier lebt und mit der er gerne nach Portugal reisen würde. Er ist verliebt in seine Jugend, die gerade zu Ende gegangen ist.
Am Sonntag regnet es in Strömen. Im Radio spielt man «Sérénade sans espoir». Camus nimmt sich ein Zimmer im Hôtel du Poirier in der Rue Ravignan. Pascal Pia hat eine Arbeit für ihn gefunden, die die geistige Lähmung, die Paris in Kürze befallen wird, schon vorwegnimmt: Er wird Redaktionssekretär bei der auflagenstarken, regierungstreuen Boulevardzeitung
Paris-Soir
. Redaktionssekretär heißt Umbruch
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