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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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gegangen ist und eine Frau kennengelernt hat. Das Gericht hält jemanden, der keine Gefühle beim Tod der Mutter zeigt, für verdächtig. Da der Angeklagte auch in den Vernehmungen keine Reue zeigt und nicht bereit ist, um Vergebung für seine Sünden zu bitten, ist der Staatsanwalt von seiner Schuld überzeugt.
    Am Ende steht das Todesurteil. Und es sieht so aus, als werde Meursault eher für seine Fühllosigkeit als für den Mord an jenem gesichts- und namenlos bleibenden Araber verurteilt. Nicht die Tat macht ihn schuldig – ein französischer Kolonist ist im kolonialen Frankreich für einen Mord an einem Araber kaum mit dem Tode bestraft worden –, sondern sein Widerstand gegen die geltenden Gefühlskonventionen der westlichen Moderne. Mit orientalischem Gleichmut bricht er alles, was ihm widerfährt, auf eine einzige Formel herunter: «Das hat keine Bedeutung.»
    Das größte Wunder des Buches bleibt die Kühnheit seiner Erzählperspektive. Was hat diesen unscheinbaren Büroangestellten zu einem Buddhisten des Herzens werden lassen, der sich der Gefühls- und Verhaltenskultur, in der er lebt, verweigert und innerlich zu allem und jedem nur wie Herman Melvilles Schreiberling Bartleby sagt: «I would prefer not to»?
    Der Roman ist ein Schlüsselwerk der europäischen Literatur, er ist vor allem aber auch ein Schlüssel zum Leben seines Verfassers. Getrennt in zwei beinahe unverbundene Teile, in deren Mitte sich ein Schuss löst und ein Mensch stirbt, zwei Teile wie die beiden unverbundenen Leben Camus’. Der erste Teil enthält die bekannten Lebensmotive des jungen Angehörigen des algerischen Proletariats: die Einfachheit, die Mittagssonne, das Glück am Strand. Es ist jener Ausschnitt seines Lebens, in dem Camus sich im Rückblick als Teil einer stummen elementaren Welt sehen möchte, die sich ein tiefes, wortloses Wissen bewahrt hat. Das ist oft missverstanden worden: Die Gleichgültigkeit und Fremdheit des Fremden ist für Camus kein Mangel, sondern ein Reichtum. Sie öffnet sich in die Stille, Weite und Mehrdeutigkeit der Welt und des Inneren.
    Der zweite Teil bildet die Erfahrungsräume des Bildungsaufsteigers ab: die Öffentlichkeit, die Kultur, die Justiz, die christliche Moral, den Journalismus, die Politik, die Religion. Es ist die Welt, in der er im Jahr  1940 lebt, schreibt und politisch handelt. In einem jungen Journalisten, einem Gerichtsreporter, hat Camus sich selbst porträtiert:
    «Die Journalisten […] machten alle dasselbe gleichgültige und ein wenig spöttische Gesicht. Einer von ihnen allerdings, sehr viel jünger, in grauem Flanell mit blauem Schlips, hatte seinen Stift vor sich liegen lassen und sah mich an. In seinem etwas unregelmäßigen Gesicht sah ich nur seine sehr hellen Augen, die mich aufmerksam musterten, ohne etwas Bestimmbares auszudrücken. Und ich hatte das sonderbare Gefühl, von mir selbst angesehen zu werden.» [124]
    Es sind die beiden Pole seines Lebens, die Camus in seinem ersten Roman wie zwei Züge mit hoher Geschwindigkeit aufeinanderzurasen lässt. Zwei Menschen sterben bei diesem Zusammenstoß: der arabische Ureinwohner und der französische Kolonist – und mit beiden der Traum, dass es eine Versöhnung zwischen Traditionalismus und Moderne, Orient und Okzident, zwischen Frankreich und dem Maghreb und auch zwischen den zwei Leben des Schriftstellers Albert Camus geben könnte.
    Das unmittelbare Ergebnis dieses Zusammenstoßes zweier historisch und geographisch weit auseinander liegender Lebensgefühle ist das Absurde. Meursault glaubt in einer Komödie zu leben, die die Gesellschaft um ihn herum aufführt. Aus Gründen, die im Roman im Dunkeln bleiben, ist er mit den Ansprüchen, die eine moderne westliche Gesellschaft an das Innenleben und das Sozialverhalten ihrer Mitglieder stellt, nicht vertraut. Diese Unvertrautheit wirkt so grundsätzlich, dass sie metaphysische Züge trägt.
    In den Jahrzehnten nach dem Erscheinen des Romans wird das Entfremdungsgefühl Meursaults zur Kollektiverfahrung mehrerer Generationen von amerikanischen und europäischen Intellektuellen, die sich in der westlichen Mainstreamkultur oder im totalitären System ihrer Heimatländer unbehaust fühlen und ihre Gegenwart absurd nennen werden.
Der Fremde
wird für diese Generationen zum Kultbuch und zu einem weltweit millionenfach verkauften Erfolg. Inzwischen – nachdem die Mainstreamkultur überall auf der Welt das Absurde in die Arme geschlossen und in ihre Kunst- und

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