Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
erstellen, Bilder aussuchen, Schriftgrößen bestimmen und: keine Zeile schreiben, sich nicht einmischen, sich stumm und taub stellen. Camus verdient 3000 Franc monatlich und darf um 11 . 30 Uhr nach Hause gehen. Er vergräbt sich in dem Zimmer seines heruntergekommenen Hotels auf dem Montmartre, lässt sich von Francine Manuskripte nachschicken, lebt wie der Fremde, an dem er in diesem Frühjahr weiterschreibt. Er fühlt sich verlassen, auch gedemütigt. Was soll er in Paris? Im Tagebuch vermerkt er:
«Was soll dieses plötzliche Erwachen – in diesem dunklen Zimmer – begleitet von den Geräuschen einer unvermittelt fremd gewordenen Stadt? Und alles ist mir fremd, alles, und kein Mensch, der zu mir gehört, keine Stätte, wo diese Wunde sich schließen könnte. Was tue ich hier, welchen Zusammenhang haben diese Gebärden, dieses Lächeln? Ich bin nicht von hier – auch nicht von anderswo. Und die Welt ist nur noch eine unbekannte Landschaft, in der mein Herz keinen Halt mehr findet. Fremd, wer könnte wissen, was dieses Wort bedeutet?» [117]
Dabei wird es im Großen und Ganzen bleiben. Er ist nicht von hier. Er wird sich in Paris vom ersten bis zum letzten Tag unwohl fühlen. Egal, wie viele Frauenherzen er in dieser Stadt brechen wird, egal, wie viel Erfolg, wie viele Weggenossen und Freunde er hier finden wird in den zwanzig Jahren, die ihm bleiben, die er in Paris bleiben wird. Er ist in «der Welt» angekommen, und die Welt ist ein Exil, fremd, unbekannt und kalt.
Sartre und Beauvoir lieben Paris. Es ist das warme Wasser, in das sie täglich eintauchen, die einzige Luft, in der sie atmen können. Soldat Sartre sitzt im Frühjahr 1940 an der Front auf seiner Wetterbeobachtungsstation im Truppenabschnitt 108 und schnappt begierig nach jeder kleinsten Nachricht aus dem vertrauten Habitat: «Erzählen Sie mir immer alles ganz genau, es ist ungeheuerlich, wie mich das interessieren kann», bittet er Simone de Beauvoir. Und sie schreibt ihm, oft dreimal täglich. Das spätere Vorzeigepaar, das bald gemeinsam mit Camus die weltbekannte Marke des Pariser Intellektuellen prägen wird, bewegt sich in Paris wie in seinem eigenen Wohnzimmer. Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre fühlen sich in der Urbanität der französischen Metropole so wohl, dass sie ihr Leben auf den Pariser Straßen, in den Pariser Cafés, in der Pariser Öffentlichkeit verbringen und im Übrigen im Hotel oder in bescheidenen Appartements nächtigen.
Auch in den Romanen von Simone de Beauvoir spielt Paris – seine Theater, seine Boulevards, sein Regen, seine nervöse, menschendichte Stimmung – die Hauptrolle, ohne sie liefen alle amourösen Verwicklungen, die endlosen Debatten und Konflikte der eigentlichen Handlung ins Leere. In seinen Reportagen über die besetzte Hauptstadt spricht Sartre von Paris wie von seinem besten Freund: Wenn Paris sich erhebt, wenn Paris sich schlafen legt, wenn Paris um seine Freiheit kämpft. Paris ist für seine Schriftsteller seit jeher mehr als eine Stadt. Es ist eine Lebensform und das Nationaltheater, in dem die französische Kultur gespielt wird.
Doch was ist Paris für Camus, der im Alter von 26 Jahren gerade erst beginnt, ein Pariser Schriftsteller zu werden? Im Tagebuch findet er ein hartes, magisch schönes Wort für die graue Stadt an der Seine: Sie sei «für alle Zeit die einzig benutzbare Wüste».
Es ist ein neuer Versuch. Nach den Ausschweifungen unter der brennenden Sonne des Mittelmeers (in
Noces
), nach den Ausflügen ins Land einer wilden, dunklen Grausamkeit (in
Caligula
) nimmt Camus Fühlung auf mit dem verregneten 20 . Jahrhundert der vereinsamten Angestellten, ihren hastigen Mahlzeiten, ihren leeren Sonntagen, der Hässlichkeit ihres Lebens. Paris ist die Hauptstadt einer der führenden Industrienationen der Welt. Und Camus ist empfänglich für den Preis, mit dem dieser Aufstieg bezahlt wird. Die Geschichte des «Fremden» ist nicht nur eine philosophische Erzählung über das Absurde, es ist auch das Porträt einer modernen Angestelltenseele, die allein ist, arbeitet, schläft und isst, um wieder zu arbeiten.
Es gibt allerdings noch etwas, das Camus in Paris zum Fremden werden lässt. Zum ersten Mal begegnet er einer der großen alten Hauptstädte des Christentums und gerät – im Geist eines rein alltagspragmatischen Katholizismus erzogen, aber im Herzen mehr heidnisch-griechisch als römisch-katholisch – auf unbekanntes Hoheitsgebiet. Paris tritt dem
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