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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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dickbäuchigen Generälen, die dann auf einem Acker stehen und mit entschlossenem Gesichtsausdruck ins Leere starren.
    Jean-Paul Sartres postum veröffentlichtes Tagebuch aus der Drôle de Guerre handelt von allem Möglichen, von Lektüren, von Freundschaften, von Studienerinnerungen, von Frauengeschichten. Nur nicht von der so nahe bevorstehenden großen Katastrophe, die in der Luft liegt. Sartre, der dreizehn Jahre ältere, erfahrenere Autor, der während der Drôle de Guerre im Elsass stationiert ist und wie besessen bis zu zwölf Stunden am Tag schreibt, ist in keiner Weise alarmiert. Genauso wenig wie ein beträchtlicher Teil der französischen Intellektuellen. Diese heute durch die Strahlkraft der Namen Camus und Sartre zuweilen in Vergessenheit geratene bürgerliche bis rechtskonservative Intelligenz Frankreichs stand Nazideutschland vergleichsweise gelassen gegenüber. Ohne echte Sympathien für den Nationalsozialismus zu entwickeln, erschien der deutsche Faschismus Teilen der französischen Elite zumindest aus der Ferne zunächst durchaus erträglicher als die Volksfront eines Léon Blum.
    Camus schreibt in Oran noch ein kurzes Prosastück,
Minotaurus
, das er seinem Freund Pierre Galindo widmet, der ihm als ein Vorbild für Meursault im
Fremden
dienen wird. «Will man die Welt verstehen», heißt es da, «muss man sich zeitweise fernhalten.» [112] Noch einmal erzählt er das Märchen von den leeren, geschichtsfreien Räumen Afrikas, besingt den afrikanischen Himmel, die Stille, die Sterne, die Steine, den Staub und die glühende Hitze.
    Während man sich in Berlin für den Westfeldzug rüstet und die jungen Deutschen sich wie die Wiedergänger der germanischen Eroberer aufspielen, freut sich Camus in seinen poetischen Essays aus Oran über die schöne Einfalt der Oraner Jugend, deren Hauptvergnügen es sei, sich die Schuhe wichsen zu lassen und in diesen Schuhen über den Boulevard zu flanieren.
    Camus erfährt bis in unsere Tage viel Spott für den naturmagischen Eskapismus seiner afrikanischen Prosa [113] , die, während in Mitteleuropa zum Weltkrieg gerüstet wird und Vernichtungslager errichtet werden, den Rückzug in die Wüste oder in die Langeweile einer von der Geschichte vergessenen Stadt preist. Die algerischen Essays sind, im Stillstand des Frühjahrs  1940 , der letzte literarische Versuch des abberufenen Journalisten, der Geschichte Europas zu entkommen und auf seinem mediterranen Außenposten lieber Sonnenstrahlen als Fallschirmjäger zu zählen.

Ein Massenmörder auf dem Theater –
Caligula
    Dabei hat Camus in den Nächten von Algier, in denen er nach Redaktionsschluss am Drama
Caligula
schrieb, die Abgründe, denen Europa entgegengeht, längst durchquert. Seine Begabung für das Drama ist nicht sehr ausgeprägt, doch
Caligula
wird sein bestes Stück. Der römische Kaiser – das reale Vorbild ( 12 bis 41  n.Chr.) hielt sich selbst für einen Gott – mordet und enteignet, wie es ihm in den Sinn kommt. Das Stück, in erster Fassung wenige Jahre vor dem Beginn des großen Massenmordens geschrieben, ist eine prophetische Studie über den sinnlosen Mord, der Camus sein Leben lang beschäftigt.
    Camus’ Imperator Caligula ist ein verzweifelter Tyrann. Nach dem Tod seiner geliebten Schwester kann er die «Welt in ihrer jetzigen Gestalt» kaum noch ertragen. «Die Menschen sterben, und sie sind nicht glücklich». [114] Er ist der erste Held Camus’, der sich vor dem Absurden rettet, indem er sich das Absurde zu eigen macht. So wird er zum Massenmörder.
    Der sinnlose Mord oder der Acte gratuit, wie das von André Gide geprägte Schlagwort für den literarischen Terrorismus heißt, nimmt die realen Gewaltexzesse des 20 . Jahrhunderts ästhetisch vorweg. Gibt sich der literarische Terrorismus eher experimentell, dadaistisch oder nihilistisch, und hält sich der staatliche Terrorismus für das geeignete Mittel, Ordnung zu schaffen, so sind doch beide das Ergebnis einer grundstürzenden Krisenerfahrung: Das europäische Kolonialreich, in dessen Abendsonnenschein Camus heranwuchs, drohte zu zerfallen. In diesem Augenblick, in dem der europäische Kontinent, der die halbe Welt über Jahrhunderte zwangseuropäisiert hatte, auf seine ursprünglichen Ausmaße zurückschrumpft, entsteht auf dem Schreibtisch eines noch immer jungen Autors in einer der letzten europäischen Kolonien ein Theaterstück über den Zusammenhang von Größenwahn und Untergang großer Imperien. Caligula, der verrückte

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