Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
der Beerdigung lernt er eine Frau im Schwimmbad kennen, mit der er am Abend ins Bett geht. Als sie ihn bald darauf zur Heirat drängt, stimmt er zu. Als sie fragt, ob er sie liebe, verneint er. Seine Gefühlskälte ist so stark, dass man sie heldenhaft nennen kann. Mit dem Unterschied, dass der klassische männliche Held seine Gefühle nur beherrscht, während Meursault gar keine Gefühle hat.
Er ist der direkte Nachfahre des erwähnten Protagonisten Mersault aus Camus’ gescheitertem Roman
Der glückliche Tod
. Doch es gibt große Unterschiede zwischen den beiden. Mersault war ein Abenteurer, ein Eroberer, ein Mörder aus Vorsatz und Eigennutz. Er wollte, was seit Balzac alle bürgerlichen Romanhelden wollen, Geld, Reisen, Sex, Immobilien. Meursault hingegen erwartet nichts vom Leben. Er war einmal in Paris und hatte Ambitionen. Aber er fand die Stadt grau und schmutzig. Die Pariser waren ihm zu blass, und er mochte die Tauben dort nicht. Also kehrte er zurück in die Welt der Verlierer und kleinen Leute in der Provinz. In diesem Punkt nimmt Meursault einen im Westen wenig verbreiteten Standpunkt ein: Er ist an der Verbesserung seiner Lage nicht interessiert. Damit fehlt ihm die Grundausstattung neuzeitlicher Bürgerlichkeit. Der Fremde ist ein Mann der Vormoderne, ein Held des Verzichts und des wunschlosen Unglücks.
Auch seine Herkunft ist nicht bürgerlich. Seine Freunde in der algerischen Vorstadt sind der Wirt Céleste, bei dem er täglich isst; der alte Nachbar, der seinen räudigen Köter beschimpft und nach dessen Verschwinden verzweifelt weint; und der Zuhälter Raymond, von dem er sich widerstandslos in die Geschichte mit den Arabern hineinziehen lässt, in deren Verlauf er zum Mörder wird. Diese Welt der einfachen Leute ist ein Reservat des Allzumenschlichen, der ehrlichen Tränen und der wortlosen Freundschaft in diesem Roman, der nicht jeden Winkel mit dem unbarmherzigen Lichtstrahl seines Desillusionismus ausleuchtet.
Der erste Teil des Buches wirkt wie ein Kurzfilm zu Camus’ vergangenem Leben in Algier. Der Kameraeffekt ergibt sich aus der Ich-Erzählung: Meursault selber ist die Kamera, und der Leser wird eingeschlossen in seinen Lebensfilm, der beinahe ein Stummfilm ist, so wenig teilt er uns mit über seine Gefühle, Überlegungen und Ansichten. Wir sehen Meursault dabei zu, wie er am Freitag am Sarg seiner Mutter schwarzen Kaffee trinkt, wie er am Samstag im Kino die Brüste der Stenotypistin Maria streichelt, wie er am Sonntag eine Werbeanzeige für Salz aus einer alten Zeitung ausschneidet und danach mit seinem Nachbarn Blutwurst isst und Wein trinkt. Mit ihm gemeinsam spüren wir das endlos langsame, sinnlose Ticken der Uhr, die unser Leben abzählt.
Die alles entscheidende Szene, in der Meursault sein Leben verspielt und das eines anderen beendet, vollzieht sich am Strand außerhalb der Stadt. Meursault und seine Freunde geraten in eine Schlägerei mit zwei Arabern, ein Araber hat ein Messer, die Männer ziehen sich zurück. Meursault kehrt später allein an den Strand zurück. Die Sonne blendet ihn, deshalb macht er eine heftige Bewegung, und der Araber zieht noch einmal sein Messer, das in der Sonne funkelt. Meursault wollte nicht schießen, doch «der Abzug hat nachgegeben». Insgesamt hat er dann fünf Mal geschossen, jeder Schuss ein Schlag, mit dem er – wie Meursault dann doch überraschend poetisch formuliert – «an das Tor des Unglücks hämmerte». Schuld daran war, wie er behauptet, die Sonne. In den entscheidenden Augenblicken seines Werks stößt man bei Camus auf den von der hohen Mittagssonne beschienenen Fatalismus seiner Kindheit im algerischen Armenviertel.
Im zweiten Teil des Romans sitzt Meursault im Gefängnis. Er wird verhört, und man macht ihm den Prozess. Der Angeklagte verteidigt sich nicht. Im Sommer 1939 hatte es tatsächlich drei Mordprozesse in Algier gegeben, bei denen die Sonne und der Alkohol eine Rolle spielten, als der eine zu schnell in seine Tasche griff und der andere sofort schoss. Der
Alger républicain
hatte darüber berichtet.
Meursaults Untersuchungsrichter ist jedoch mit einer fatalistischen Erklärung der Tat, wie der Beschuldigte sie bietet, nicht zufrieden. Er erfindet eine modernere, psychologische Erzählung, die zu diesen fünf Schüssen hinführen soll. Zum wichtigen Baustein dieser Geschichte wird das kühle Verhalten des Angeklagten bei der Beerdigung seiner Mutter und dass er obendrein schon am nächsten Tag schwimmen
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