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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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Ton des
Fremden
.
    Es gibt eine Tonaufnahme, in der man ihn hören kann, diesen anderen, so ganz unpariserischen Tonfall Camus’. Sie stammt aus dem April  1954 , als Camus an drei Tagen in einem Pariser Studio von Radio France den gesamten Roman eingesprochen hat. Es ist eine schnelle, eine moderne Stimme, die ohne große Ausschläge und Kunstfertigkeiten, in einem wie wegwerfenden, an sich selbst und der Welt überdrüssigen Ton die Tragödie eines Mannes aus Algier erzählt, der zum Mörder wird, weil die Sonne ihn geblendet hat. Es ist vor allem diese in Camus’ Vortrag nachzuempfindende Tonlosigkeit, in der sich Generationen von jungen Nachkriegseuropäern dann wiedererkennen werden. Manchem jüngeren Autor wie beispielsweise dem hinter dem Eisernen Vorhang in dürftigen Verhältnissen lebenden ungarischen Holocaustüberlebenden und späteren Nobelpreisträger Imre Kertész wird diese Tonlosigkeit einmal eine Sprache für das Unsagbare geben, nachdem das Pathos und die Rhetorik des alten Europa davor völlig versagt hatten. [121]

Der Fremde
    Die erste Notiz zum
Fremden
findet man in den Tagebüchern vom August  1937 [122] , die letzte im Mai  1940 .
    Jean-Paul Sartre erkannte als Erster, dass dieses Werk viel mehr war als nur ein weiterer großer Roman der französischen Literatur. Obwohl seine 21 -seitige Kritik, die er im Februar  1943 in den
Cahiers du Sud
veröffentlicht, im Zwischentonbereich bereits jenen feinen Spott enthält, mit dem er Camus später bloßstellen wird, hat er das Umstürzende des Romans doch sofort erfasst: Dieses Buch will die Welt und die Art, über sie zu sprechen, noch einmal neu erfinden.
    Sartre erkennt die Sprengkraft des
Fremden
, auch wenn er die Originalität seines Autors nicht anerkennt und Camus in seiner langen Rezension zu einem kleinen Hemingway des Montparnasse macht, zu jemandem, dessen bleibendes Verdienst vor allem darin besteht, ein etwas ruppiges, neorealistisches Amerika ins Café de Flore gebracht zu haben. [123]
    Genau das stimmte nun gerade nicht. Der Ton des
Fremden
ist zwar so unsentimental und direkt wie der neue schnelle Ton der jungen Amerikaner, doch er ist nicht so hart und männlich wie dieser. Camus’ Fremder spricht wie ein Kind, dem der zweite Blick, der durch Vorwissen formatierte Blick, auf die Welt fehlt und das alles wie zum ersten Mal sieht. Wollte man Vorläufer suchen, fände man sie in der romanischen Literatur des Ennui, in Alberto Moravias
Die Gleichgültigen
( 1929 ), in Emmanuel Boves
Meine Freunde
( 1924 ), in Sartres
Der Ekel
( 1938 ).
    Doch geht Camus viel weiter. Er überlässt seinem anspruchslosen Helden – diesem ersten kleinen Mann der französischen Literatur, der nichts Großartiges mehr vorhat – die Regie. Und die Welt schrumpft entsprechend auf die Größe dieses Angestellten mit festen Bürostunden, der allein in zwei Zimmern in der Vorstadt von Algier lebt. Seine Mutter ist gerade im Altersheim gestorben. Aus seinem Fenster sieht er auf eine belebte Straße. Straßenbahnen fahren, und Menschen eilen vorüber. Das zweite Zimmer bewohnt er nicht. Der Esstisch und das Bett stehen im selben Raum. Außerdem gibt es dort ein paar durchgesessene Strohstühle, einen Schrank und einen Toilettentisch. Mehr Komfort braucht er nicht – physisch, seelisch und literarisch nicht. Die Kargheit seiner Behausung entspricht seinem kaum möblierten Innenleben.
    Am Sonntag stellt er einen Stuhl ans Fenster, sieht stundenlang hinaus und raucht. Er verbringt seine Tage in einem Büro im Hafenviertel. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Seefrachtbriefe, die er bearbeiten muss. Er macht das ohne Widerwillen. Am meisten stört ihn, dass das Rollhandtuch, an dem sich die Angestellten die Hände abtrocknen, am Abend feucht ist. Solchen Kleinigkeiten schenkt er besondere Beachtung. Die Beerdigung seiner Mutter beobachtet er wie ein zufälliger Gast. Sartre nannte das: Er sieht die Welt wie hinter Glas. Dabei ist er äußerst feinfühlig. Es sind nebensächliche Dinge, die ihm auffallen: die Tränen, die sich in den tiefen Gesichtsfurchen der alten Leute aufstauen; die dicken Bäuche der alten Frauen unter den eng gebundenen Schürzen; die Art, wie die Hosen der Männer auf den Schuhen aufliegen; das glänzende Schwarz des Straßenbelags. Er ist auch sehr empfänglich für Geräusche und für Farben. Später im Gefängnis wird er behaupten, dass man an einem einzigen Tag genug erlebe, um sich hundert Jahre lang daran zu erinnern. Am Tag nach

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