Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
und der geöffneten Fenster zurückerobern, und zwar literarisch wie persönlich. Zusammen mit Char oder in dessen Dunstkreis möchte Camus nun etwas ganz Neues schreiben, das doch zugleich so alt ist wie «Brot und Wein», «fließendes Wasser», die «Sonne des Südens», das «Geheimnis der Natur» und das «Licht der Wahrheit». Im Café de Flore rührt man peinlich berührt in den Kaffeetassen.
Der Mensch in der Revolte
Europa ist krank. Auf europäischem Boden wurden allein in Camus’ kurzer Lebenszeit unzählige Millionen Menschen in Kriegen und Vernichtungslagern ermordet. Solange die Wurzel des Übels nicht gefunden war, dessen ist Camus sicher, würde das Morden nicht aufhören. Hieß es nicht unlängst in einem weit verbreiteten Roman, der Pestbazillus könne jederzeit wieder ausbrechen?
Bisher hatte Camus seinem Zeitalter eine aussichtslose Diagnose gestellt, jetzt ging er einen Schritt weiter und formulierte einen Vorschlag, wie das kranke Jahrhundert zu kurieren sei. Das machte ihn angreifbar. Sein Essay
Der Mensch in der Revolte
umfasste eine großangelegte Kritik der abendländischen Vernunft, in seiner Tragweite und Radikalität das französische Pendant zur 1947 in Deutschland erschienenen
Dialektik der Aufklärung
von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Doch während deren Kritik der instrumentellen Vernunft zu einem Kultbuch der intellektuellen Linken und der Studentenbewegung avancieren wird, blieb Camus’ Essay ein vielgescholtenes Dokument der westlichen Zivilisationskritik.
Das mochte an Sartres so ungerechter wie brillanter Vernichtung des Buches liegen, doch ebenso an dessen schillernder, schwer zu kategorisierender Form, die zwischen deutscher Ideen- und französischer Literaturgeschichte, philosophischer Kritik, Lebensreform, ästhetischer Theorie sowie Totalitarismus-, Kapitalismus- und Faschismusanalyse oszilliert und alles mit allem in Beziehung setzt. Der die einzelnen Kapitel verbindende Grundgedanke ist jedoch leicht zugänglich: Die Maßlosigkeit des 20 . Jahrhunderts, die ihren letzten Ausdruck in den nationalsozialistischen und kommunistischen Vernichtungslagern fand, hat ihren Ursprung in der europäischen Dichtung und Philosophie. Um zu verstehen, wie es zu den Opfern des 20 . Jahrhunderts kommen konnte, geht Camus auf die Grundlagen eines falschen Denkens zurück, das er der Einfachheit halber in diesem Essay auch «das deutsche Denken» nennt.
Das Buch widmet Camus seinem Lehrer Jean Grenier, dessen 1938 bei Gallimard erschienener Essay
Über den Geist der Orthodoxie
in Stil und These das genaue Vorbild für den
Menschen in der Revolte
war. Man findet schon darin die Kritik am Surrealismus und an André Breton, die Kritik am Marxismus, am Materialismus, am Rationalismus, an den Fortschrittsideologien und an der deutschen Philosophie des 19 . Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des Hegelianismus. Sie alle kommen in Camus’ Essay in dieser Reihenfolge wieder vor. Auch die Ausblicke im letzten Teil der Essays ähneln sich bei Lehrer und Schüler: «Man hatte zu viel Vertrauen in den zwangsläufigen Fortschritt der Ideen und hat darüber vergessen, dass Ideen nichts sind ohne den Menschen» [214] , so Grenier, der ebenfalls daran erinnerte, dass die christliche Moderne den antiken Mythos, dessen Hierarchien sich ursprünglich räumlich zwischen Himmel und Erde erstreckten, verzeitlicht hatte, sodass das Paradies nun in der Zukunft lag und der Fortschritt als das Mittel galt, dorthin zu gelangen. Diese «Zukunftsreligion» hielt Camus’ alter Lehrer bereits in der Zwischenkriegszeit, in der sein Buch entstand, für gescheitert. Grenier plädierte dafür, zu den «spirituellen Werten» zurückzufinden, die «Vorherrschaft des Spirituellen vor dem Industriellen» erneut anzuerkennen, an die «spirituelle Gelassenheit» der Griechen anzuknüpfen und die «Hybris» des modernen Menschen zugunsten des «inneren Menschen» zurückzudrängen.
Camus übernimmt die Diagnose von der an Hybris erkrankten Moderne und formuliert den Therapievorschlag für die kranke Gegenwart dahingehend um, dass anstelle der von seinem Lehrer empfohlenen «spirituellen Gelassenheit» das «menschliche Maß» die ersehnte Heilung bringen soll.
Camus möchte in seinem Essay, an dem er jahrelang und zuletzt in fieberhaftem Eifer geschrieben hat, nicht weniger erzählen als die «Geschichte von Europas Hochmut». Sich selbst nimmt er nicht aus. «Der moderne Krebs zerfrisst auch mich»
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