Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
Gewalt, die im Namen des Gewissens verübt wird –, führt er den Begriff der Revolte ein und definiert diese als eine partisanenhafte Aktion, die keine Großutopie, sondern eine noch unbekannte Idee verteidigt. Die jungen Terroristen, die sich auf den Großherzog stürzten, hatten ihr Leben für ein Ziel riskiert, das sie selbst noch nicht kannten:
«Unfähig zu rechtfertigen, was sie indes notwendig fanden, kamen sie auf den Gedanken, sich selbst zur Rechtfertigung hinzugeben, mit einem persönlichen Opfer die Frage zu beantworten, die sie sich stellten». [220]
In seinem Stück
Die Gerechten
, dem Drama im Werkszyklus der Revolte ( 1949 in Paris uraufgeführt), hatte Camus diesen Rebellen bereits ein Denkmal gesetzt. Der junge Terrorist Kaliajew schien hier zunächst der Revolutionsromantik der Pariser Rive gauche zu folgen und deklamierte im Stil Merleau-Pontys: «Wir töten, um eine Welt zu bauen, in der keiner mehr töten wird. Wir nehmen es auf uns, Verbrecher zu sein, damit die Erde endlich von Unschuldigen bewohnt wird.» [221] Doch sank Kaliajews Arm mit der Bombe in der Hand, als er in der Kalesche des Tyrannen, den er töten soll, zwei Kinder sitzen sah. Bei nächster Gelegenheit führte er das Attentat gegen den Großfürsten aus, und er wurde zum Tode verurteilt.
Der historische Iwan Kaliajew hatte am 17 . Februar 1905 den Großfürsten Sergei Alexandrowitsch Romanow getötet und wurde dafür hingerichtet; er war der Mensch in der Revolte, der dem Essay den Titel gab. Für Camus war er ein zum Mitleid begabter Revolutionär – und kein Sartre. Letzterer verbreitete nach seiner ersten offiziellen Reise in die Sowjetunion der Schauprozesse im Juli 1954 in der französischen Presse: «Der sowjetische Bürger besitzt nach meiner Auffassung die völlige Meinungsfreiheit». [222] Camus’ Kommentar:
«Ein verschiedener Schlag Menschen. Der eine tötet einmal und bezahlt mit seinem Leben. Der andere rechtfertigt Tausende von Verbrechen und nimmt es hin, mit Ehrungen bezahlt zu werden». [223]
Im Dezember 1954 wird Jean-Paul Sartre zum Vizepräsidenten der Gesellschaft für französisch-sowjetische Freundschaft ernannt. Man gratuliert.
Nemesis oder Gegen ein deutsches Europa
Camus hat einen Albtraum: Er träumt von einer Gesellschaft, in der «zweitausend Bankiers und Techniker über ein Europa von hundertzwanzig Millionen Einwohnern herrschen, wo das Privatleben vollständig mit dem öffentlichen Leben zusammenfällt, wo ein absoluter Gehorsam der Tat, des Gedankens und des Herzens» alles gleich und alles gleichermaßen produktiv macht. [224] Auch mit dieser Kritik an der ökonomischen Fortschrittsidolatrie – dem Herzstück seines Essays über die Revolte – greift er seiner Zeit voraus. Schon zu Beginn der fünfziger Jahre ahnt er die drohende Verwandlung Europas in eine «Weltfabrik», in der das Leben uniformiert und «immer mehr vom Rhythmus der Produktion bestimmt wird». Er prognostiziert, dass die «wahren Leidenschaften» ökonomisiert und «die Verstümmelung des Menschen vervielfacht» werde. Während seine Kritik des Staatskommunismus nach dessen Untergang nachgerade prophetisch geworden ist, bleibt seine nicht minder visionäre Wachstumskritik noch zu entdecken.
Doch welche Alternative zur Wachstumsideologie, der einzigen Universalideologie, die das 20 . Jahrhundert unbeschadet überlebt hat, soll es geben? Das würde die Frage des Jahrhunderts werden, das nach Camus kam – unseres. Ihn politisch festzulegen fällt, seitdem sich das politische Schachfeld nach 1989 erheblich verändert hat, nicht leichter. 1951 , bei einer Konferenz in England, sagt Camus: «Vor allem sollte ich Ihnen meine Vorlieben nicht verheimlichen. Obwohl ich nicht wirklich Sozialist bin, gehören meine Sympathien der libertären Form der Gewerkschaftsbewegung». [225]
In der Regel preist Camus, wo er nur kann – im
Combat
, in seinen Vorträgen, in
Der Mensch in der Revolte
–, die skandinavischen Sozialdemokraten, die französischen Libertären und die englische Arbeiterpartei dafür, dass sie dem «dogmatischen Wahnsinn» des europäischen Kommunismus widerstanden hätten. Dennoch ist Camus nicht der Philosoph der europäischen Sozialdemokratie. In seinen Augen hat auch sie der «industriellen Maßlosigkeit» – für ihn neben dem Totalitarismus das Grundübel der Epoche – zu wenig entgegenzusetzen. Der Teufelskreis des Wachstums – «die industrielle Zivilisation schafft und
Weitere Kostenlose Bücher