Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
kaufen (nicht zu teuer). Diese Frage ist für mich
überlebenswichtig
geworden. Ich belästige Sie damit, weil die Dinge hier für mich an einem Punkt angelangt sind, an dem ich meine Kinder verlassen muss, wenn wir wieder in der Rue Séguier leben müssen, in Anbetracht meiner Gesundheit, meiner Arbeit – und ihrer Lebendigkeit». [211]
Char schlägt vor, in Cabrière zu suchen, einem Dorf, das am «richtigen Platz» sei, das ganze Jahr über in Licht gebadet, der Bergkette des Lubéron gegenüber gelegen. Später ist von Häusern in Lagnes und anderswo die Rede. Doch die Familie verbringt mehrere Sommer in der Nähe von L’Isle-sur-la-Sorgue, ohne dass sich die geeignete Immobilie fände.
Char wird für Camus der wichtigste Mensch seiner letzten Lebensdekade. Hatte Pascal Pia ihn in die Pariser Schule der verlorenen Illusionen eingeführt, so begleitete Char ihn zurück in das sonnendurchflutete Universum seiner Jugend. René Char – der 1955 in Paris Martin Heidegger kennenlernen und in den sechziger Jahren mehrfach zu Vorträgen in seine südfranzösische Heimat einladen wird – sieht die Welt nicht in dem kalten und harten Licht der Absurdität. Für Camus ist er ein alter Grieche, der sich in die Gegenwart verirrt hat, ein Dichter, der den «tragischen Optimismus des vorsokratischen Griechenlands» [212] in sich trägt und noch Zugang zu den ältesten Quellen der Poesie hat. Camus’ Wunsch, in Chars Nähe zu leben, ist verbunden mit dem Traum, in den mediterranen geistigen Raum einzutauchen, in dem Char zu leben scheint. Selten ist eine Immobiliensuche mit so ungeheuerlichen Erwartungen verknüpft gewesen.
Der Pariser Kultautor und der provenzalische Dichter schließen sehr rasch ein unverbrüchliches Bündnis gegen die Welt. Camus’ Briefe an Char zeugen, ganz anders als die stets etwas steif-beflissenen an Grenier und die nüchtern-ironischen an Pia, von überströmender Herzlichkeit («ich schreibe an Sie wie an meinen Freund und Bruder»). Chars Briefe wiederum sind zuweilen wahre Liebesbriefe («Sie sind einer der wenigen Menschen, Albert, die ich liebe und bewundere»). Man überbietet einander im wechselseitigen Lobgesang. Schreibt Camus über Chars Gedichtband: «Ich muss Ihnen sagen, dies ist das schönste lyrische Werk dieser unglücklichen Epoche», so antwortet Char: «Sie haben ein sehr großes Buch geschrieben […]. Unser Zeitalter braucht Sie». Darauf Camus: «Es gibt heutzutage wenige Menschen, deren Sprache und deren Haltung mir gleichermaßen gefallen. Sie sind einer davon – der einzige Dichter, der es heute wagt, die Schönheit zu verteidigen». Und wieder Char: «Kein Werk und kein Autor kann sich Ihnen und Ihrem Werk in unserem Zeitalter auch nur annähern». Damit nicht genug, entgegnet Camus: «Niemals dürfen Sie an sich und an Ihrem unvergleichlichen Werk auch nur zweifeln: das hieße, auch an uns zu zweifeln und an allem, was uns erhebt». So geht das dreizehn Jahre lang.
Char verteidigt Camus, wenn dieser wegen seines unbeirrbaren Antistalinismus in die Schusslinie der Pariser Linken geraten wird. Camus schreibt Vorworte zu Chars Dichtungen, 1948 sogar das Skript für eine Radiosendung über die Gedichte René Chars, in der er den Freund zu einem Heros stilisiert, der sich den Plagen der Moderne entgegenwirft:
«Ein Kellergeruch steigt aus den zerfallenen Städten empor, hüllt uns und alles, was Europa schafft, in seinen Dunst. In den meisten unserer Kunstwerke sind die Bäume verschwunden, haben die Frauen kein Gesicht und sind alle Fenster geschlossen. Ohne unsere Revolte lebten wir bald in der einsamen Nacht der blinden Augen, von der Empedokles sprach. Aber es gibt unsere Revolte. Und eine große Stimme erhebt sich und befreit uns aus unserer Einsamkeit. Inmitten der unfruchtbaren Seele unserer Dichtung kündet ein Fluss endlich von fruchtbaren Zeiten.» [213]
Nach solchem Trompetenstoß erscholl die mächtige Tragödinnenstimme von Maria Casarès, die den Hörern ausgewählte Zeilen der fruchtbaren Fluss-Gedichte René Chars zu Gehör brachte.
Camus begriff das Schreiben Chars – wie sein eigenes – mehr und mehr als ein Werk, das aus einem Geist, einer «famille d’esprits» herrührte. Die Bücher, in denen Frauen kein Gesicht und Städte keine Bäume mehr haben, über die er jetzt so beredt Klage führte, verdankten sich zwar auch einem gewissen Albert Camus; doch möchte der nun gemeinsam mit dem «Griechen» Char die Welt der Schönheit, der Sonne
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