Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)
[215] , klagt er im Tagebuch. Insofern soll der Essay nicht nur dem kranken Saeculum, sondern auch seinem Verfasser Rettung bringen – beider Geschichte enthält auffallende Parallelen. An vielen Stellen des Textes leuchtet eine paradiesische europäische Ursprungswelt auf, die Camus’ Verklärungen der eigenen Kindheit entspricht – einfach, griechisch, maßvoll, naturschön, tolerant, bescheiden, mediterran, der menschlichen Natur und dem Glauben an das Leben verpflichtet. Ihr steht das moderne Europa gegenüber, dem Albert Camus beispielhaft in Frankreich begegnet ist – maßlos, hybrid, städtisch, fortschrittlich, zerstörerisch, diktatorisch, hässlich, naturfern, terroristisch, nordeuropäisch, imperialistisch.
Schon der junge Camus hatte diese beiden unversöhnlichen europäischen Lebenskonzepte in seinem Mittelmeer-Vortrag im Kulturhaus in Algier bis zum Konflikt zwischen Rom und Athen, zwischen Christentum und Griechentum zurückbuchstabiert. Aus dem Sieg des einen Lebensmodells über das andere erklärt er sich nun die Gewaltgeschichte seines Jahrhunderts – und unausgesprochen die Geschichte seines eigenen Exilantenlebens in Paris, das sich von seinen algerischen Wurzeln so weit entfernt hat.
Das größte Missverständnis, das
Der Mensch in der Revolte
bis heute auslöst, ist die Annahme, es handle sich um ein philosophisches Buch. Tatsächlich ist es ein Buch über den Massenmord im 20 . Jahrhundert, das Dichter und Denker als Wegbereiter anklagt. Des Vergehens für schuldig befunden, sich über «die menschliche Natur» erhoben zu haben, wird eine illustre Riege ausschließlich deutscher und französischer Autoren: Lautréamont, Sade, Rimbaud, Nietzsche (in seiner «deutschen», durch die böse Schwester manipulierten Gestalt von
Der Wille zur Macht
), August Comte, Karl Marx und Max Stirner.
Der Hauptangeklagte des Essays heißt jedoch G. W. F. Hegel, von dessen Geschichtsphilosophie behauptet wird, sie habe geradewegs in den Gulag geführt. Diese polemische Überzeichnung geht auf die französische Rezeption der Hegel’schen Philosophie durch den russischstämmigen Exilfranzosen Alexandre Kojève zurück, der zwischen 1933 und 1939 an der École pratique des hautes études geradezu legendäre Hegel-Vorlesungen hielt, die eine ganze Generation französischer Intellektueller prägten – seinen Ausführungen lauschten Jean-Paul Sartre, Pierre Klossowski, Georges Bataille, Raymond Queneau, André Breton, Raymond Aron, Maurice Merleau-Ponty und Emmanuel Levinas. Kojève war elektrisiert von Hegels Geschichtsphilosophie und hielt es für geboten, seine Pariser Studenten von der Unumgänglichkeit der im Namen der Geschichte verübten Gewalt zu überzeugen, indem er die Gewalt als ein notwendiges Moment der Selbstentfaltung des Hegel’schen Absoluten darstellte. «Wenn man von einer ‹dialektischen Methode› sprechen will, derer sich die Geschichte bedient», erläuterte Kojève, «so wird da nicht diskutiert, sondern man schlägt sich teils mit Keulen und Säbeln oder Kanonen, teils mit Sicheln, Hämmern und Maschinen». [216]
Dank der Kojève’schen Nachrüstungen der Hegel’schen Philosophie ließen sich auch die sowjetischen Lager ohne weiteres rechtfertigen, wenn die orthodoxe Pariser Linke einmal wöchentlich am Donnerstag zur Redaktionssitzung der Monatszeitschrift
Les temps modernes
in der Wohnung ihres Herausgebers Sartre in der Rue Bonaparte tagte. Die Lager wurden zur bedauerlichen, doch unumgänglichen Zwischenstation einer unerbittlich voranschreitenden Dialektik der Geschichte. Maurice Merleau-Ponty, mit dem Camus auf den Partys in Saint-Germain-des-Prés so heftig streitet, bis einer der beiden Türen knallend das Lokal verlässt, ruft beispielsweise in seinem Buch
Humanismus und Terror
( 1947 ) den Kojève’schen Hegel in den Zeugenstand, um trotz der Moskauer Prozesse eine Politik der «Unterstützung der KP » zu rechtfertigen: Es genügt, wenn «die Gewalt, mit der man ‹paktiert›, progressiv ist und auf ihre eigene Beseitigung zielt». Ein Verbrechen sei nie als solches moralisch zu verurteilen, es müsse vielmehr mit Nachsicht und «in der geschichtlichen Totalität, zu der es gehört», betrachtet werden. [217] Camus muss bei der Lektüre gekocht haben. Doch auch er lässt sich von Kojèves Auslegungen leiten, wenn er klagt, Hegel habe die Idee der Weiterentwicklung durch «Vernichtung» aufgebracht (den Hegel’schen Begriff der «Aufhebung» scheint er
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