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Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition)

Titel: Camus: Das Ideal der Einfachheit. Eine Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Radisch
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nicht zu kennen oder verwenden zu wollen). Nicht anders als seine linken Gegner setzt Camus die Hegel’sche Negation, welche die dialektische Bewegung des Geistes vorantreibt, mit der realen Gewalt in der europäischen Geschichte gleich – der Unterschied zu den Pariser Marxisten liegt allein in der Zuversicht, die Camus dafür fehlt. Bei ihm wird der deutsche Philosoph zum Schreibtischtäter: zum geistigen Urvater des Terrors, der Zerstörung, des Imperialismus und des Totalitarismus im 20 . Jahrhundert.
    Die polemischen Unschärfen seiner Argumentation nimmt Camus in Kauf: «Philosophen werden selten bloß mit dem Verstand gelesen, oft mit dem Herzen und seiner Leidenschaft.» [218] Bei seiner Kritik des französischen Surrealismus, des deutschen Idealismus, des dialektischen Materialismus, des deutschen Faschismus und des sowjetischen Kommunismus auf ein paar hundert Buchseiten nimmt er sich das Recht, aus Leidenschaft widersprüchlich zu sein.
    Den französischen Nebenangeklagten ergeht es nicht besser als dem deutschen Hauptangeklagten. Im Marquis de Sade, dem bis heute von den Liebhabern eines gefährlichen Denkens verehrten Grenzgänger der Literatur, erkennt Camus einen Vorboten der dumpfen Brutalität von Polizeistaaten. André Breton, dem Pionier im Reich des literarischen Unbewussten, legt er das Bonmot zur Last: «Die einfachste surrealistische Tat besteht darin, mit dem Revolver in der Hand auf die Straße zu gehen und blindlings in die Menge zu schießen». [219] In der Résistance hatte er erlebt, dass Worte mit dem Leben bezahlt wurden. Daraus erklären sich das Pathos und die ungewöhnliche Erregung des Anklägers, der in der deutschen und französischen Geistesgeschichte nun nach literarischen Gewaltakten fahndet. Unausgesprochen richtet sich Camus’ Abrechnung mit der Ästhetik der Grausamkeit auch gegen sein eigenes Werk: Er verabschiedet sich von dem Massenmörder Caligula, von den Mördern Martha, Mersault und Meursault. Für ihn sind Kunst und Literatur kein Spiel mehr – Verbrechen beginnen im Kopf. Bevor man falsch lebt, hat man falsch gedacht oder leichtsinnig geschrieben.
    Camus, der seinen literarischen Nihilismus hinter sich lassen will, kehrt zu den einfachen Ursprüngen seines Denkens zurück. Für den neu erwachten «Griechen» Camus ist jede Weiterentwicklung zugleich eine Wiederkehr, vom Denken des «Werde, was du noch nicht bist» (wie er den Angeklagten Hegel einmal mehr nicht ganz zutreffend zusammenfasst) zum schlichten «Werde, was du bist».
    In Paris, wo
Der Mensch in der Revolte
1951 erscheint, kommt so etwas nicht gut an. Deutlicher und schmerzhafter konnte man dem moskaugetreuen Revolutionspaar Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir nicht auf die Füße treten. Unmittelbar vor Erscheinen äußerte Camus gegenüber dem Literaten Jean-Claude Brisville, mit dem er zu Mittag aß: «Geben Sie mir noch einmal die Hand. In ein paar Tagen wird es nicht mehr viele Leute geben, die mir die Hand geben.» Sein Gefühl trog ihn nicht. Niemand auf der Rive gauche hatte es bisher gewagt, den Marxismus und die Revolution derart grundsätzlich anzugreifen, wie Camus es hier tat. Zum ersten Mal in der Geschichte der linken Pariser Intelligenz stellte ein Mitglied dieser Familie die eigenen Geschäftsgrundlagen in Frage, ohne ins Lager der Rechten zu wechseln.
    [Bild vergrößern]
    Sartre und Simone de Beauvoir in Saint-Germain-des-Prés
    Im Rückblick hat Camus in allem recht behalten: Es gibt keine Entschuldigung für die stalinistischen Schauprozesse; keine Zukunft ist es wert, dass in der Gegenwart für sie gemordet wird; Moral lässt sich nicht auf morgen vertagen; alle großen europäischen Revolutionen endeten als Erziehungsdiktaturen und hinter Mauern und Stacheldraht. Seine Kritik des Totalitarismus hat sich als eine der hellsichtigsten Gegenwartsanalysen des 20 . Jahrhunderts erwiesen.
    Doch Camus ist kein Heiliger und inzwischen auch kein Pazifist mehr. Er polemisiert gegen die geschichtsphilosophisch abgesicherte Gewalt des Marxismus und der Revolution – und verteidigt zugleich die partisanenhaften und verzweifelten Terroranschläge der Résistance und der russischen Anarchisten. Seine größte Bewunderung gilt den jungen russischen Sozialrevolutionären, die 1905 den Großfürsten Sergej ermordeten und dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten. Um seinen Essay um diese Klippe herumzusteuern – nein zur Gewalt, die im Namen der Geschichte verübt wird; ja zur

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