Canale Mortale (German Edition)
dann würde
sich bestimmt eine Gelegenheit ergeben, sie zu fragen.
Als sie die dunkle Gasse verließ, hörte sie, wie hinter ihr eine Tür
zugeschlagen wurde. Zwei Männer hatten gerade Flavias Haus verlassen. Der
Ältere war klein und gedrungen und trug den linken Arm in einer Schlinge. Der
andere konnte höchstens Mitte zwanzig sein. Der Ältere redete mit autoritärer
Stimme auf ihn ein. Antonia konnte nicht verstehen, was er sagte,
wahrscheinlich sprach er in venezianischem Dialekt. Ungeduldig drängte er sich
an Antonia vorbei. Der Jüngere trug eine dünne blaue Windjacke mit
hochgeschlagenem Kragen und eine Sonnenbrille. Die beiden Männer erreichten
jetzt die Promenade. Als sie dort ankam, sah Antonia, wie sie in einer Bar
verschwanden.
Sie ließ sich neben zeichnenden Kunststudenten auf den Stufen vor
der Redentore-Kirche nieder und genoss den Anblick der Silhouette von den
Zattere bis zur rosa- und cremefarbenen Fassade des Dogenpalastes. Dann bekam
sie plötzlich Lust, ein Bild zu sehen, über das sie als Psychologiestudentin in
einem Seminar über »Traum und Träume« ein Referat gehalten hatte. Sie nahm das
nächste Boot zurück und lief zur Accademia-Galerie.
Im Museum bewegte sie sich zielstrebig an den vielen anderen
Exponaten vorbei direkt in den Saal mit Vittore Carpaccios Zyklus vom »Leben
der heiligen Ursula«. Die Geschichte der Ursula, die der Legende nach mit
elftausend Jungfrauen nach Köln fuhr und dort den Märtyrertod fand, weil sie
sich weigerte, ihrem Glauben abzuschwören und einen heidnischen Fürsten zum
Mann zu nehmen, füllte den gesamten Raum aus. Am Ende der rechten Seite hing
Antonias Lieblingsbild: »Der Traum der heiligen Ursula«.
Sie setzte sich auf eine der gepolsterten Museumsbänke und versank
in Carpaccios wundersamem Gemälde. In Bildern war immer eine Geschichte
versteckt, die nicht im Katalog oder in den wissenschaftlichen Abhandlungen beschrieben
stand. Mit dem ihr eigenen Spürsinn entdeckte Antonia in den Darstellungen oft
neue Zusammenhänge. In ihrer Hausarbeit hatte sie versucht, Ursulas Traum als
eine Wunscherfüllung zu deuten. Die träumende Ursula wünsche sich den schönen
Engel, der ihrem Bett gegenüber in der offenen Tür stehe, hatte sie im Seminar
vorgetragen. Die junge Frau auf dem Bild lag auf der linken Seite des breiten
Himmelbettes, das rechts Platz für einen anderen Schläfer ließ. Türen und
Fenster des Schlafgemachs waren weit geöffnet, und der Schatten des jungen
Mannes zielte auf das jungfräuliche Lager. Er trug einen Palmzweig in der Hand.
In Hamburg war Jana mit ihr ins Kunsthistorische Institut gegangen
und hatte ihr erklärt, dass Märtyrer in der Malerei dieser Epoche durch die
Märtyrerpalme gekennzeichnet wurden. Der Palmzweig in der Hand des Engels
bedeute den Sieg über das Irdische durch das Martyrium, bei jungfräulichen
Märtyrerinnen zudem den Sieg über »das Fleisch«.
»Heute würden wir es ›Begehren‹ nennen«, hatte Jana lachend gesagt.
Auf dem Schreibpult der Prinzessin stand ein Topf mit einer kleinen
Feder. Antonia hatte den Palmzweig des Engels als große Feder gesehen und die
Idee gehabt, dass die beiden einen Vertrag unterzeichnen wollten, der auf
beiderseitigem Einverständnis beruhte. Als Jana ihr den Palmzweig als Zeichen
des Martyriums deutete, war diese Annahme hinfällig geworden. Antonia fühlte
sich trotzdem bestätigt. Hatte die Prinzessin nicht ihre Krone, das Zeichen
ihres gesellschaftlichen Standes, abgelegt? Und Jana hatte ihr erklärt, dass
das Hündchen am Fußende des Bettes in der Malerei der Renaissance für
Sexualität stehe. Wenn der Engel Ursula nicht, wie bei Maria, die Botschaft
einer zukünftigen Empfängnis, sondern der schlafenden Prinzessin Martyrium und
Tod verkündete, dann, so hatte Antonia im Seminar argumentiert, musste man den
Traum als doppelten Wunsch deuten, dem Wunsch nach
Sexualität und dem gleichzeitigen Wunsch nach Bestrafung für die verpönte
Sehnsucht.
Im Seminar hatte sie mit ihren Thesen für Unruhe gesorgt und eine
Diskussion über die frühchristlichen Märtyrer entfacht. Schließlich, so meinten
einige, hätten diese sich ja wohl kaum den Tod gewünscht .
Aber Antonia blieb bei ihrer These, der Maler habe hier den Wunsch der Ursula
zum Ausdruck gebracht. Der Engel sei sozusagen ihr »Traummann«, sie sterbe
jedoch als Jungfrau, die Stelle neben ihr müsse leer bleiben. Einer Ehe habe
sie sich widersetzt und den Tod einem Leben »in Sünde«
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