Canale Mortale (German Edition)
vorgezogen.
Antonia betrachtete lange das bleiche Gesicht der Schlafenden, das
tatsächlich an das Gesicht einer Toten erinnerte. Ihr Kopf ruhte in ihrer
rechten Hand, und unter ihrem Ellbogen befand sich am Ende ihres Kissens ein
Zierknopf, auf dem das Wort »In – fan – tia« stand und auf die Kindlichkeit der
Schlafenden verwies. Was hatte das zu bedeuten? Wie alle großen Kunstwerke gab
auch dieses Bild ständig neue Rätsel auf.
Als sie einen Blick auf ihre Uhr warf, sprang sie erschrocken auf.
Sie war mit Florian im »All’Angolo« am Campo San Stefano verabredet und hatte
die Zeit vergessen. Im Sturmschritt verließ sie das Museum, lief über die
Accademia-Brücke und über den Campo. Sie sah Florian schon von Weitem an einem
der kleinen Tische vor dem Café sitzen. Als sie dort ankam, steckte er sich
gerade den letzten Rest eines Sandwichs in den Mund und tippte auf seine
Armbanduhr.
»Du bist spät dran. Ich muss weg. Die Proben fangen gleich wieder
an. Wo warst du denn so lange?«
»Ich hatte ein Date mit dem Maler Carpaccio. Entschuldige, Florian,
ich hab dabei ganz die Zeit vergessen …«
Florian wischte sich den Mund mit der weißen Papierserviette ab und
gab ihr einen flüchtigen Kuss. »Ich muss los. Heute kommt der Gastprofessor aus
Amsterdam. Er kann nur zwei Tage bleiben, daher ist jede Minute mit ihm
kostbar.«
Antonia sah ihm nach, bis er hinter dem Denkmal des Dichters
Tommaseo verschwunden war, den die Venezianer »Bücherscheißer« nannten, weil er
an einem Stapel Bücher lehnte, der halb unter seinem Mantel verborgen war.
Sie bestellte sich zwei Tramezzini mit Thunfisch und Ei und setzte
sich an Florians Tisch. Carpaccios Bild vom Traum der heiligen Ursula drängte
sich vor ihr inneres Auge. Träume waren seltsam. Hatte sie nicht diesen
merkwürdigen Alptraum gehabt, bevor sie nach Venedig gereist waren? Er war ihr
wieder eingefallen, als die beiden Männer in der engen Gasse auf der Giudecca
sie überholten. Ihr Herz klopfte augenblicklich schneller, als sie sich daran
erinnerte, wie sie in den grauen Wassermassen versunken war.
Sie verdrängte das Bild und überlegte stattdessen, wie sie Flavia am
besten nach den Briefen fragen konnte, ohne allzu viel Aufsehen zu erregen.
Jana würde dolmetschen müssen. Aber das würde ihr Gespräch immer wieder
unterbrechen, und Antonia war es gewohnt, ihre Informanten durch schnelles
Fragen unter Druck zu setzen, um aus ihren Reaktionen abzulesen, ob sie ihnen
Glauben schenken konnte oder nicht. Von einer Entscheidung wurde sie enthoben,
weil ihr Handy klingelte und Octavia sie fragte, ob sie in einer Stunde mit ihr
Tee trinken wolle. Antonia, die bis dahin den Tag allein verbracht hatte, nahm
das Angebot dankbar an.
Als sie im Palazzo den Wohntrakt der Familie betrat, fand sie
Flavia im Flur vor. Der Raum war hell erleuchtet, der Geruch von Pflegemitteln
hing in der Luft. Flavia hatte die Deckenfluter eingeschaltet. Sie stand auf
einer Leiter und bearbeitete vorsichtig und konzentriert ein Gemälde nach dem
anderen. Sie nickte nur knapp zurück und sah kaum auf, als Antonia sie grüßte.
Antonia sah ihr eine Weile zu, wie sie vorsichtig mit einem
Staubwedel über die Leinwand ging und dann mit einem ölgetränkten Lappen über
die Rahmen streifte. Die Ecken der Bilder säuberte sie mit einem Pinsel.
Antonia wollte sie in ihrer Arbeit nicht unterbrechen. Nach dem Tee würde sich
noch eine Gelegenheit ergeben, sie nach den Briefen zu fragen.
Im Salon stand Giovanna mit dem Tablett in der Hand vor dem kleinen
Tisch, den sie gerade gedeckt hatte und schien ihr Werk noch einmal prüfend zu
betrachten.
»Die Signora will nachmittags immer Tee, wie in Hamburg. Bei uns
trinkt man keinen Tee. Ohne meinen Kaffee käme ich nicht durch den Tag. Tee ist
für mich eher wie heißes Wasser. Wir kennen das nicht. Auch der Conte ist gegen
diese Teetrinkerei. Wenn er hier ist, geht er pünktlich um vier jeden
Nachmittag ins ›Quadri‹ und trinkt dort seinen Kaffee. Das macht er schon seit
Jahrzehnten so, und deshalb kennt ihn auch jeder dort. Neulich treffe ich
Signora Rossi, unsere Nachbarin, und was glauben Sie, was die mir erzählt hat?
Sie hatte einmal diese englischen Gäste …«
Antonia stand, Giovannas Wortschwall ausgeliefert, etwas verlegen am
Fenster. Octavia war eingetreten und kam ihr zu Hilfe.
»Giovanna, heute legt das Gemüseboot aus San Erasmo an der Giudecca
an. Holen Sie uns doch bitte Artischockenböden und Zucchini für
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