Canale Mortale (German Edition)
das
Abendessen.«
Octavia wirkte heute entspannter als am Vortag. Sie trug Jeans, und
ihr Haar war nicht hochgesteckt, sondern im Nacken mit einer schwarzen
Samtschleife zu einem losen Zopf gebunden. Sie bat Antonia, sich zu setzen, und
goss Tee ein. Antonia nahm einen Schluck von dem duftenden Earl Grey und
brachte das Gespräch auf Flavia.
»Sie nimmt ihre Arbeit offenbar sehr ernst.«
»Oh ja, sie ist eine ausgezeichnete Kraft. Mein Vater hat ihr
ausdrücklich die Gemälde anvertraut. Sie hat vorher bei einer alten Principessa
gearbeitet, die noch mit Peggy Guggenheim befreundet war. Die alte Dame war
sehr streng und mit ihren Angestellten unerbittlich. Flavia hat mir erzählt,
dass sie im Winter draußen die Tontöpfe schrubben musste, wenn sie im Haus
fertig war. Sie hatte immer ein hartes Leben. Ihre Familie ist bitterarm. Sie
kommt aus einer Kleinbauernfamilie vom Festland.«
»Und wie lange ist sie schon bei Ihnen?«
»Seit etwa einem halben Jahr. Sie kam Anfang Dezember in unser Haus.
Wir haben lange nach einer Haushaltshilfe gesucht und immer wieder inseriert.
Mein Vater hatte Bedenken, eine Fremde ins Haus zu lassen. Aber Flavia hatte
beste Referenzen. Sie ist sehr tüchtig und absolut zuverlässig.«
Als Octavia ihr Tee nachschenkte, fiel Antonias Blick auf die großen
Initialen »C« und »F«, die auf der Außenseite der silbernen Kanne eingraviert
waren. Zuckerdose und Milchkännchen trugen dieselben Buchstaben, die sich
verspielt nach rechts neigten.
»Sind das die Initialen Ihrer Mutter oder Großmutter?«
Octavia lächelte. »Der Vorname meiner Mutter war zwar Chiara, aber
sie war eine sehr schlichte Frau und hätte diesen Aufwand nicht betrieben. CF steht für Cecilia Falieri, es ist der Name meiner
Schwester. Alles Mögliche im Haushalt ist mit diesen Buchstaben geschmückt.
Handtücher, Bettwäsche, Briefpapier, alles. Cecilia lebte hier lange Jahre
allein mit meinem Vater. Ich war ja in Hamburg verheiratet. Aus Langeweile hat
sie immer wieder die Wohnung umdekoriert oder Dinge mit ihren Anfangsbuchstaben
versehen lassen. Nardo, unser Restaurator, der schon für meinen Großvater die
Sammlung betreute, hat diese Gravuren gemacht.«
Antonia nahm die Zuckerdose auf und betrachtete sie näher. »Und
arbeitet er immer noch für Ihren Vater?«
»Nein. Nardo ist inzwischen neunzig und lebt bei seiner Schwester
auf der Insel Burano. Die Menschen auf den Inseln, sagt man, werden besonders
alt.«
»Und Ihre Schwester?«, fragte Antonia vorsichtig.
Octavia schwieg einen Moment, und ein bitterer Zug legte sich um
ihren Mund.
»Cecilia ist jetzt schon vier Jahre tot. Sie war der Liebling meines
Vaters. Ihr Mädchenzimmer ist noch so, wie sie es nach ihrer Hochzeit verlassen
hat. Mein Vater will nicht, dass dort etwas verändert wird. Ich finde das
schrecklich, aber ich möchte ihm nicht widersprechen.«
Octavias Augen verdunkelten sich, und sie zündete sich eine
Zigarette an.
»Unser Grab auf San Michele ist seit ihrem Tod stets mit frischen
Blumen geschmückt. Er hat einen Gärtner beauftragt, sie alle paar Tage zu
erneuern. Ich sollte das nicht sagen, aber es ist doch seltsam: Nach dem Tod
unserer Mutter hat er diesen Aufwand nicht betrieben.«
Antonia nickte nachdenklich. Dann richtete sie sich auf und blickte
Octavia fest in die Augen. »Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«
Octavia nickte irritiert. »Natürlich.«
»Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie hier besonders glücklich
sind. Warum bleiben Sie in Venedig, wenn alle Ihre Freunde in Deutschland
leben?«
Octavia blies den Rauch in sanften Kringeln gegen die Balkendecke
des Salons.
»Wegen Jana und Ugo. Mein Vater würde mich enterben, wenn ich
zurückginge. Er hat mir meine Heirat schon kaum verziehen. Ich muss an die
Kinder denken. Die Lebensversicherung meines Mannes reichte nicht, um beiden
ein Studium zu finanzieren. Auch ist es angenehm, Dienstboten zu haben. Und
mein Vater ist ausgesprochen liebenswürdig zu mir. Liebenswürdig und großzügig.
Solange wir hier leben, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Er kommt
übrigens gegen Ende der Woche aus der Schweiz zurück.«
Der Gedanke daran schien sie so nervös zu machen, dass sie die nur
angerauchte Zigarette heftig im Aschenbecher ausdrückte.
»Bis dahin würde ich gerne wissen, was die Briefe zu bedeuten haben …«
Dabei trat wieder dieser flehende Ausdruck in ihre Augen, den
Antonia schon an ihr kannte. Sie spürte ein Prickeln im Nacken, das sich
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