Canale Mortale (German Edition)
irritiert.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Signora!«
»Aber Sie haben den Herrn doch gemeldet. Bitte versuchen Sie sich zu
erinnern, Flavia. Er war Amerikaner.«
Octavias Stimme hatte einen verzweifelten Ton angenommen. Flavia
rieb ihre Hände nervös an der Schürze.
»Ein Americano war hier, das ist richtig. Er hat eine Karte
abgegeben, und ich habe sie dem Conte gebracht. Es war ein ausländischer Name,
und ich habe ihn nicht behalten. Sie müssen den Conte fragen.«
»Danke, Flavia. Das war alles.«
»Va bene, Signora. Ich bin dann oben. Ich gehe heute in den Saal.
Der Conte hat mir bei seinem letzten Besuch aufgetragen, die Rahmen auf der
Galerie zu entstauben und mit Holzöl zu behandeln.«
Antonia wartete ab, bis Flavia die Wohnungstür von außen geschlossen
hatte. Dann schlug sie Octavia vor, gemeinsam nach der Visitenkarte des
Besuchers zu suchen.
»Vielleicht ist sie noch irgendwo auf dem Schreibtisch Ihres
Vaters.«
Im Arbeitszimmer des Conte waren die Läden geschlossen. Octavia
öffnete sie und ließ die Sonne herein. Vor dem mittleren der drei Fenster stand
ein großer Mahagonischreibtisch. An den Wänden reihten sich Bücherschränke mit
verglasten Türen, auf einem kleinen Tisch lag ein Stapel Kunstbände, die einen
unbenutzten Eindruck machten, und auf einer Stele neben dem Schreibtisch stand
eine Büste Dantes.
Antonia fragte sich, was der Conte hier wohl arbeitete. Sein
Schreibtisch verriet es nicht. Die Oberfläche war auf Hochglanz poliert, und
der Geruch des Reinigungsmittels, das Flavia im Flur benutzt hatte, hing auch
hier in der Luft.
»Hat Flavia hier heute geputzt?«
Octavia sah sie ratlos an. »Das kann sein, aber ich bin mir nicht
sicher. Giovanna gibt ihr meist die Anweisungen, was zu tun ist.«
Neben säuberlich ausgerichteten Schreibutensilien und einer
Unterlage aus grünem Filz stand eine silberne Schale mit Visitenkarten. Octavia
und Antonia gingen die gut dreißig Karten durch, keine wies jedoch auf einen
Besucher aus den USA hin. Die meisten enthielten
venezianische Adressen.
»Vielleicht hat Ihr Vater die Karte des Kunsthändlers in einer
Schublade aufbewahrt?«
Sämtliche Schubladen des Schreibtisches waren verschlossen. Antonia
untersuchte noch einmal gründlich die Schreibunterlage. An ihrem Rand steckte
ein weißes Blatt Löschpapier, auf das der Conte hier und da etwas gekritzelt
hatte. Es waren Namen, Zahlen und kleine Zeichnungen, wie man sie manchmal
unbewusst und flüchtig beim Telefonieren anfertigt. Der Conte hatte offenbar
eine Vorliebe für Vierecke und Kreise, die er miteinander verschränkte. In der
rechten oberen Ecke, eingerahmt von zwei Rhomben, stand eine längere
Telefonnummer mit der Vorwahl 001.
»Das hier könnte die Telefonnummer des Händlers sein. Jedenfalls ist
das eine amerikanische Telefonnummer. Wir müssen überprüfen, ob es eine Nummer
aus Baltimore ist. Haben Sie einen Internetanschluss?«
Octavia führte Antonia in ihr eigenes Arbeitszimmer. Auf dem
Schreibtisch am Fenster standen ein aufgeklappter weißer Apple-Laptop und ein
Tischtelefon. Octavia ging online und fand mit ein paar Klicks die Homepage von
Baltimore. Die Vorwahl der Stadt, die Antonia auf einen Zettel gekritzelt
hatte, stimmte mit der im Internet überein. Antonia nahm sich, ohne zu zögern,
den Telefonapparat und wählte die Nummer, die der Conte notiert hatte. Es war
besetzt. Beim zweiten Versuch hob jemand ab. Eine Frauenstimme meldete sich.
Antonia tat so, als habe sie sich verwählt:
»Hello! Is that Mrs Smith? Who is there? I don’t understand.
What’s your name please?«
Die Stimme am anderen Ende antwortete geduldig: »This is Esther
Singer speaking. Mrs Aram Singer.«
Antonia fragte noch einmal nach, ließ sich den Namen buchstabieren
und notierte ihn neben der Telefonnummer. Dann entschuldigte sie sich mit
»Sorry, wrong number!« und legte auf. Sie reichte Octavia den Zettel und bat
sie, den Namen Aram Singer zu googeln. Nach wenigen Augenblicken erschien
tatsächlich die Adresse eines Aram Singer in Baltimore auf dem Bildschirm.
»Das muss der Mann sein, der Ihren Vater besucht hat!«, rief
Antonia.
Octavia war irritiert. »Von Kunsthändler steht hier aber nichts.
Dieser Aram Singer verkauft offenbar Badezimmereinrichtungen …«
Antonia nickte. »Trotzdem spricht die notierte Telefonnummer dafür,
dass dies der Mann ist, den wir suchen. Sie müssen den Conte bei nächster
Gelegenheit nach Mr Singer fragen.«
Antonia ließ die
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