Canale Mortale (German Edition)
jungen Mann ruhte, der sie unten mit einem schüchternen Lächeln
verabschiedete.
»Ein Kaffee wäre jetzt schön.«
Sie folgte Don Orione, der am Jachthafen vorbei mit ausgreifenden
Schritten eine kleine Bar ansteuerte. Von der Terrasse sah man über das Wasser
zum Markusplatz hinüber. Vor der Kulisse des Dogenpalastes und auf den
angrenzenden Brücken schoben sich Touristenmassen. Antonia war froh, diesem
Andrang entronnen zu sein.
Don Orione ließ sich aufatmend unter einem Sonnenschirm nieder und
bestellte zwei Kaffee. Es war friedlich hier. Nur das leise Klirren der
Segelmasten und das sanfte Geräusch der Wellen, die gegen die Kaimauer
schlugen, waren zu hören.
Antonia brachte das Gespräch auf ihren Besuch in der
Zeitungsredaktion und die sieben Märtyrer. Don Orione nickte betrübt.
»Ja, das war eine schlimme Zeit. Ich war damals gerade in die Schule
gekommen. Eine Tante von mir, die im Castello wohnte, musste die Erschießungen
mit ansehen. Die Menschen in Venedig waren tagelang paralysiert vor Angst und
Abscheu. Die Stadt wirkte danach wie ausgestorben. Niemand ging mehr aus. Alle
waren wie versteinert.«
Antonia rührte in ihrem Espresso. Nach einer Pause fragte sie mit
fester Stimme: »Don Orione, ich habe eine etwas heikle Frage. Wissen Sie, ob
das, was damals passiert ist, etwas mit den Falieris zu tun hatte?«
Don Orione sah erstaunt auf. »Wie kommen Sie darauf?«
Antonia kam in Bedrängnis. Sie konnte Don Orione aus Loyalität
gegenüber Octavia nicht in die Geschichte mit den Briefen einweihen. Sie fing
sich jedoch rasch wieder.
»Octavia hat so etwas angedeutet. Aber sie wollte nicht recht mit
der Sprache heraus. Mich interessieren diese Dinge sehr. Ich finde, man sollte
sich der Vergangenheit stellen.«
Don Orione rief den Kellner und bestellte sich einen weiteren
Espresso und ein Sandwich.
»Warum fragt Octavia nicht ihren Vater?«
Antonia bestellte sich noch ein Glas Wasser und einen zweiten
Espresso, bevor sie antwortete.
»Sie möchte ihren Vater schonen. Octavia meint, er dürfe sich nicht
aufregen, und fürchtet, dass ihm Fragen dieser Art schaden.«
Don Orione schüttelte missbilligend den Kopf. »Mauro könnte meines
Erachtens ein bisschen Aufregung gebrauchen. Er sitzt doch nur vor seinen
Gemälden, wenn er in Venedig ist. Entweder vor seinen Bildern oder im ›Quadri‹.
Das stelle ich mir nicht besonders interessant vor.«
Antonia musste lächeln. Sie hatte Don Orione bisher fast immer nur
im Gespräch mit anderen gesehen, Kommunikation war offenbar sein Lebenselixier.
Der schweigsame und in sich gekehrte Conte war das genaue Gegenteil von ihm.
Der Padrone der Bar kam an den Tisch und stellte einen Teller mit zwei gut
gefüllten Weißbrotdreiecken vor den Priester. Don Orione dankte, griff nach
einem davon, biss genüsslich einen großen Happen ab, wischte sich den Mund und
schob den Rest nach. Dann rückte er den Teller mit dem zweiten Brot in Antonias
Richtung.
»Hier, probieren Sie. Die jungen Frauen von heute essen viel zu
wenig. Meine Mutter und meine Schwestern haben immer üppig gegessen, und es ist
ihnen gut bekommen!«
Antonia lehnte dankend ab. Sie rutschte unruhig auf dem weißen
Plastikstuhl hin und her, denn das Treffen mit dem Conte sollte in einer
knappen Stunde stattfinden, und sie musste noch von San Giorgio zum Markusplatz
hinüberfahren. Don Orione nahm das zweite Weißbrotdreieck mit Thunfisch, Mayonnaise
und Ei in Angriff.
»Und? Waren die Falieris Ihrer Meinung nach in die damalige Politik
verstrickt? Hatten sie Kontakt zu den Faschisten oder der deutschen Besatzung?«
Antonia hatte Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen.
Don Orione antwortete nicht. Stattdessen hob er seine Hand und
winkte dem Kellner. »Ich glaube, ich brauche dasselbe noch mal. Ich habe heute
Mittag viel zu wenig gegessen. Meine Haushälterin findet, dass ich zu dick bin,
und kocht mir mittags nur Suppe.«
Dann lehnte er sich zurück und sah nachdenklich zu den vielen Masten
der Segeljachten hinüber, die sich im Wind leise auf und ab bewegten.
»Die alten Familien der Stadt halten sich, schon seit es keine Dogen
mehr gibt, aus der Politik heraus. Angeblich hat man auf den alten Falieri, den
Vater des Conte, nach dem Krieg mit Fingern gezeigt. Das hat mir Nardo einmal
erzählt, der Restaurator der Familie. Er weiß eine Menge über diese Zeit. Man
sagt, der Vater des Conte hätte gute Beziehungen zu den deutschen Besatzern
gehabt. Er wollte wohl vor allem seine Bilder retten,
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